Flamingos im Schnee
Neunzehnhundertsiebzigern, dieselbe Stickerei mit den Worten N ANAS K ÜCHE in einem Bilderrahmen an der Wand, dieselben gusseisernen Untersetzer, dieselben gehäkelten Topflappen und dieselben gelben Rüschengardinen vorm Küchenfenster, die sie dreimal jährlich wusch und bügelte. Denselben Linoleumboden im schwarz-weißen Schachbrettmuster, denselben Resopalküchentisch mit Chromleisten und dieselben vier roten Vinylstühle dazu. Alles blieb gleich.
»Sie glaubt an gar nichts«, meinte Perry trocken.
»Ich glaube an dich, Nana«, sagte Cam.
»Nee, du solltest dir lieber was Mächtigeres suchen als mich, Kindchen.«
Es hatte einmal eine Zeit gegeben, zu der Cam mit voller Inbrunst an all dieses Wunderzeugs geglaubt hätte. Zu der Zeit, als sie sich noch für etwas Besonderes hielt. Denn ihr war so allerhand passiert. Kleine, aber erstaunliche Dinge, die sie zu der Überzeugung gebracht hatten, dass jemand, eine höhere Macht, über sie wachte.
Als sie sechs war, hatte sie viel über Gottes Hände nachgedacht. Damals war Gott für sie ein bärtiger, alter Mann auf einer Wolke gewesen, mit riesigen Händen, die einem wehtun konnten, wenn man Prügel bekam. Sie bekam nie Prügel von Gottes Händen. Doch einmal, als sie an einem heißen Tag im Sumpfland von Florida durch ihre Straße schlich und wünschte, sie hätte ein Fahrrad, damit sie schneller zu ihrer Freundin Jessica kam und mit ihr Barbies spielen konnte, wurde sie plötzlich fortgetragen – von einem rätselhaften Wirbelwind? Gottes Händen? – und direkt vor Jessicas Haustür abgesetzt. Gerade war sie noch vor Mark VanHoutens Haus, dem mit dem furchterregenden Rottweiler an der Kette, und auf einmal stand sie einen halben Kilometer weiter bei Jessica, mitsamt ihren Barbies, deren blonde Haare kurz geschoren waren, weil Jessicas kleine Schwester es geschafft hatte, sich die Papierschere zu angeln.
Jedenfalls hatte es einmal eine Zeit gegeben, als Cam an Wunder geglaubt hätte. Eine Zeit, als sie von einer geheimnisvollen Kraft emporgehoben und sanft vor Jessicas Haustür wieder abgesetzt wurde. Doch das war vor der Scheidung gewesen und vor dem Krebs und bevor ihr Vater Knall auf Fall im besten Alter starb. Lange bevor sie wusste, dass sie ihren achtzehnten Geburtstag nicht erleben würde.
Nach Einbruch der Dunkelheit, als Cam und Perry gebannt vor einer Realityshow im Fernsehen saßen und ihre Mutter alte Freundinnen besuchte, kam Nana ganz in Schwarz ins Wohnzimmer. Sie trug ihren schwarzen Gymnastikanzug mit den schwarzen Leggings von der Jazzgymnastik, darüber schwarze Bermudashorts und auf dem Kopf eine schwarze Baseballkappe. Unter ihre Augen hatte sie schwarzen Eyeliner geschmiert.
»Bist du bereit, Campbell?«, fragte sie.
»Du lieber Himmel, Nana! Für was?«
»Für unsere Mission. Wir klettern über die Mauer.«
Der örtlichen Kirchengeschichte zufolge nämlich war die Jungfrau Maria an einem Sonntagmorgen des Jahres 1999 der Hausfrau Joan Caruso erschienen, während diese in der Kirche Unserer Lieben Frau von der Himmelfahrt in der Church Street den Bibelunterricht für die Vorschulkinder abhielt. Joan stand draußen auf dem Hof, ließ die Kleinen sich ein wenig von ihrem angestauten katholischen Eifer austoben und starrte auf einen knorrigen Ast. Ganz allmählich, so berichtete sie, die in fünf Jahren fünf Kinder geboren und vermutlich genauso lange nicht geschlafen hatte, verwandelte sich der Astknoten in das Gesicht der Jungfrau. Und die Jungfrau sprach zu ihr: »Baue mir an dieser Stelle ein Denkmal, auf dass alle, die hierherkommen, geheilt werden. Hoboken soll das Lourdes Amerikas werden.«
Jedem, der diese Sätze hörte, musste klar sein, was für ein Quatsch das war. Für Cam klang es, als hätte diese Joan den Film Pocahontas auf LSD geguckt – weil darin ein sprechender Baum vorkam. Doch die Leute glaubten der guten Frau, statt ihr Antipsychotika verschreiben zu lassen. Und viele, die von der Geschichte erfuhren, pilgerten zu dem Baum in Hoboken, um von seinen heiligen Ahornblättern geheilt zu werden.
»Komm«, sagte Nana. »Hier ist die Taschenlampe.«
»Wie war das nochmal, warum können wir das nicht bei Tag machen?«, fragte Cam und schaltete die Lampe ein und aus, um die Batterien zu prüfen.
»Habe ich dir doch erklärt. Wegen Rita.« Nanas ehemalige Freundin Rita war die ehrenamtliche Gemeindehelferin, der die Verwaltung der Baumblätter oblag und die Nanas Antrag, den Baum besuchen und ein Blatt für Cam
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