Flamme der Freiheit
rechten Sitz des hohen Kragens gesorgt.
Draußen begannen die Glocken des Doms zu läuten.
»Meine Damen«, drängelte Kapellmeister Schilling verzweifelt. »Die Künstlerin muss sich konzentrieren und sammeln.«
»Wir gehen ja schon«, verabschiedeten sich Charlotte und Sophie und warfen ihrer alten Freundin noch eine Kusshand zu.
Der wärmende Pelzmantel bedeutete eine Rettung für Eleonora. Sie hörte auf zu frieren und mit den Zähnen zu klappern. Nun konnte sie sich freisingen und sich konzentriert auf das Requiem, das Schilling eigens zu Ehren der Gräfin komponiert hatte, vorbereiten.
Hatte Eleonora schon vor vier Jahren anlässlich der Hochzeit von Charlotte beseelt gesungen, übertraf sie sich an diesem frühen Abend ein weiteres Mal. Sie gab alles, legte ihre Gefühle, ihre Liebe, ihre Trauer und Verzweiflung, schließlich aber auch Hoffnung, sogar wieder Zuversicht in ihren Gesang.
Atemlose Stille herrschte im Dom, nachdem sie geendet hatte. Kein Mensch wagte sich zu rühren. Auch Eleonora stand regungslos mit geneigtem Kopf, ehe sie endlich nach Minuten in den Hintergrund zurücktrat. Jetzt, da die innere Anspannung nachließ, begann sie wieder zu frieren. Zu ihrem Entsetzen stellte sie fest, dass sogar ihre Zähne zu klappern begannen. Verstohlen rieb sie sich die Hände warm. Da fühlte sie, wie ihr von hinten ein weicher Pelzmantel um die Schultern gelegt wurde. Instinktiv zog sie ihn über der Brust zusammen und warf einen verstohlenen Blick zur Seite. Eine der jungen Choristinnen hatte Erbarmen mit ihr gehabt und den wertvollen Zobel einfach von der Kirchenbank genommen, um ihn Eleonora umzulegen. Jetzt trat sie wieder in die Reihe der Sängerinnen zurück und blickte unbeteiligt geradeaus.
Mittlerweile hatte Domprediger Sack die Kanzel erklommen und verharrte still an seinem Platz. Als das letzte Hüsteln verstummt war, hub er an.
»Schleiermacher wäre mir ja lieber gewesen«, raunte ihr Schilling hinter der vorgehaltenen Hand zu. »Aber den hat er ja höchstpersönlich nach Stolp verbannt.«
Auch das war einmal Thema bei einem ihrer nachmittäglichen Plauderstündchen gewesen. Ernst Schleiermacher, Philosoph und evangelischer Pfarrer, hatte zur Missbilligung seiner Vorgesetzten seine Liebe zu der Frau eines Kollegen zu offen gezeigt und war zur Strafe in die tiefe pommersche Provinz versetzt worden.
»Sie ist sogar eine Namensvetterin von dir«, hatte Gräfin Dorothea erzählt, die sich an derlei Skandälchen so gerne ergötzte. »Angeblich soll sich Eleonora Grunow sogar mit Scheidungsabsichten tragen. Sie wäre ja nicht die Erste. Sich scheiden zu lassen scheint bei den jungen Frauen mittlerweile à la mode zu sein.«
Wahrscheinlich wäre auch Gräfin Dorothea nicht so sehr glücklich mit dem Prediger ihres Trauergottesdienstes gewesen. Soweit Eleonora sich erinnerte, hielt sie nicht sonderlich viel von Friedrich Sack, während sie aus ihrer Sympathie für den kleinen Ernst Schleiermacher niemals ein Hehl gemacht hatte.
»Obwohl ich ja schon finde, dass unsere gute Henriette sich etwas mehr zurückhalten könnte, wo er doch eine ganz andere liebt.« Damit war die schöne stattliche Henriette Herz gemeint, von der man sich erzählte, dass sie zwar alles tat, um dem unglücklichen Liebespaar zu helfen, aber insgeheim den lieben »Schleier« für sich selbst und immer an ihrer Seite gehabt hätte.
Waren das noch Zeiten gewesen, als man sich bei der Teestunde über derlei ergehen konnte. Eleonora schlug den Kragen des Zobels hoch und zog ihn noch ein bisschen fester um ihre Schultern. Dieser Duft!
Es war derselbe Pelz wie damals, als Gräfin Dorothea sie so stürmisch in die Arme gerissen hatte, nachdem sie sie zum ersten Mal hatte singen hören. Wie lange lag das mittlerweile zurück? Und heute hatte sie unwiderruflich zum letzten Mal für ihre mütterliche Freundin, der sie so viel zu verdanken hatte, gesungen.
20
N ach der Trauerfeier waren einige ausgewählte Gäste noch von der Familie in das Stadtpalais zu einem kleinen Diner eingeladen. Hier begegnete Eleonora Alexander wieder. War es ein guter oder ein böswilliger Geist gewesen, der ihn ihr sogar zum Tischherrn bestimmt hatte?
Alexander war älter geworden. War es der Krieg, die schwere Verletzung oder die Trauer ob des Verlustes seiner geliebten Großmutter, die ihm zwei tiefe Kerben um die Mundwinkel gruben? Der einst so sinnliche Schwung seiner Lippen war verschwunden. Alexander war ein richtiger Mann geworden,
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