Flamme der Freiheit
Worte finden würde. Er verkündete die Notwendigkeit vom Beginn eines neuen Krieges. Er rechtfertigte sich dafür, sich jahrelang auf die Seite des französischen Imperators geschlagen zu haben.
»Durch die Erfüllung eingegangener Verbindlichkeiten hoffte Ich Meinem Volk Erleichterung zu bereiten und den französischen Kaiser endlich zu überzeugen, dass es sein eigener Vorteil sey, Preußen seine Unabhängigkeit zu lassen. Aber Meine reinsten Absichten wurden durch Uebermuth und Treulosigkeit vereitelt, und nur zu deutlich sahen wir, dass des Kaisers Verträge mehr noch wie seine Kriege uns langsam verderben werden.«
Eleonora stockte der Atem, als sie weiterlas.
»Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo alle Täuschung über unsern Zustand aufhört. Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern und Litthauer! Ihr wißt, was Ihr seit fast sieben Jahren erduldet habt. Ihr wißt, was Euer trauriges Loos ist, wenn wir den beginnenden Kampf nicht ehrenvoll enden.«
Der Aufruf war am 17 . März 1813 vom preußischen König in Breslau erlassen worden.
Eleonora unterbrach ihre Lektüre und lehnte sich nachdenklich zurück. Blitzartig kehrte die Erinnerung an den französischen Soldaten von diesem Morgen zurück. Übelkeit stieg in ihr auf. Einen ganz persönlichen Kampf hatte sie schon ehrenvoll beendet, indem sie den Eindringling in die Flucht schlug. Es genügte ihr nicht. Sie hatte sich verteidigt, aber damit auch ihre Heimat, ihr geliebtes Preußen? Konnte sie als Frau überhaupt für ihr Land kämpfen, so wie es Alexander von Jugend auf getan hatte.
Alexander! Eleonora zuckte zusammen. Nein, sie wollte nicht an ihn denken, nicht daran, wie er sie verhöhnt und verraten hatte. Sie zwang sich, jeglichen weiteren Gedanken an den Vater ihres Kindes abzuschalten. Erneut vertiefte sie sich in die Lektüre des königlichen Aufrufs. Es war der leidenschaftliche Appell für einen bewaffneten Aufstand gegen den ungeliebten Franzosenkaiser. Ein Ruf zu den Waffen.
»Es ist der letzte, entscheidende Kampf, den wir bestehen, für unsere Existenz, unsere Unabhängigkeit, unseren Wohlstand. Keinen anderen Ausweg gibt es, als einen ehrenvollen Frieden oder einen ruhmvollen Untergang.«
Untergang? Preußen sollte nicht untergehen! Und wenn sie helfen konnte, das zu verhindern, wollte Eleonora ihr Teil dazu beitragen. Doch sie war eine Frau. Nur eine Frau?
Und Mutter? Aber war sie überhaupt noch eine richtige Mutter? Konnte sie es ihrer kleinen Rieke noch sein? Die Muttermilch war versiegt. Ihre Brüste hatten seit heute Morgen schon sichtbar von ihrer prallen Festigkeit verloren. Ihre Tochter war auf sie nicht mehr angewiesen.
»Du kannst stolz darauf sein, die Tochter eines einfachen preußischen Feldwebels zu sein?«, klangen ihr Alexanders Worte im Ohr. Doch schon wenige Wochen später kam für sie das bittere Erwachen. »Ich will Dich nie mehr wiedersehen!«, stand in seinem letzten Brief. Ihr gemeinsames Kind hatte er sogar als Bastard bezeichnet. Angewidert schüttelte Eleonora den Kopf. Nur nicht an Alexander denken!
Sie sprang von ihrem Stuhl. Wütend riss sie die Schublade auf, die sich im Küchentisch befand, und begann hektisch darin zu kramen. Da war sie, die alte Schere, die ihr Vater noch aus der Militärzeit besaß und sich genauso wenig von ihr trennte wie von seiner alten Uniformjacke. Immer wieder schliff er ihre Blätter nach, um so besser die Zeitungsabschnitte ausschneiden zu können, die er sammelte.
Wie in Trance begab sich Eleonora in ihre Schlafkammer, wo Rieke immer noch tief und fest schlummerte. Es war inzwischen hell geworden. Sie zog die dünnen Vorhänge am Fenster beiseite und trat an den runden Spiegel über der Kommode. Ein bleiches, hohläugiges Gesicht schaute ihr entgegen. Sie griff nach dem Zopf in ihrem Nacken und hob ihn hoch. Mit einem scharfen Schnapp hatte sie ihn abgeschnitten. Achtlos ließ sie ihn zu Boden fallen. Er lag da wie ein kleines, lebloses Pelztier. Jetzt begann sie richtig zu schneiden, schnipp, schnapp, schnipp, schnapp. Unbarmherzig leistete die alte Schere ihre scharfen Dienste, Strähne für Strähne fiel zu Boden. Achtlos trat Eleonora darauf herum. Dabei war sie doch immer so stolz auf ihre goldblonde Haarpracht gewesen, um die Sophie und Charlotte sie beneidet hatten.
Egal! Eleonora schnitt weiter und weiter. Sie geriet in einen kleinen Rausch und konnte gar nicht mehr aufhören.
Sie kam erst wieder zu sich, als nur noch ein paar kurze Stoppeln auf ihrem Kopf
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