Flamme der Freiheit
Sie war jetzt August Renz.
Eleonora war so mit sich selbst beschäftigt, dass sie zunächst gar nicht mitbekam, dass sie nicht alleine auf der Landstraße war. So selten wie möglich legte sie Rast ein. »Eine kurze Rast trägt nur wenig zur Erholung bei. Je häufiger man rastet, desto größer der Wunsch nach Ruhepausen, desto geringer der Wille, weiterzumarschieren.« Eine alte Soldatenweisheit, die Eleonora aus den Erzählungen ihres Vaters kannte und von deren Richtigkeit sie sich jetzt überzeugen konnte. Also machte sie höchstens alle fünf bis sechs Stunden eine kleine Pause. Sie mied menschliche Ansiedlungen, so gut es ging. Für die Nacht suchte sie sich meist eine abgelegene Scheune. Zum Abendessen säbelte sie sich eine dicke Scheibe von ihrem Brot, biss herzhaft von der Dauerwurst und trank kaltes Wasser, das sie frisch aus einem der vielen gluckernden Bäche schöpfte. Um diese Jahreszeit führten sie reichlich Schmelzwasser mit sich, umso erfrischender der Trunk. Am Morgen begnügte sie sich mit einer Schmalzstulle und einem weiteren Schluck Wasser, ehe sie Vaters Feldflasche wieder auffüllte. Es half alles nichts, nach drei Tagen war ihr Proviant aufgebraucht. Ob sie wollte oder nicht, sie musste irgendwo einkehren, sich einen Bäcker und Schlachter suchen, um ihren Vorrat neu aufzufüllen. Prüfend fuhr sie über ihren Gürtel. Die lederne Geldkatze war noch an ihrem richtigen Platz. Eleonora hatte ihr ganzes Erspartes eingesteckt, sogar den Golddukaten, den ihr Vater seiner Enkelin zur Taufe geschenkt hatte. Es stach ihr ins Herz.
Friederike! Nur nicht an sie denken!
»Na, Kamerad, auch nach Breslau unterwegs?«
Sie fuhr herum. Vor ihr stand ein junger Bursche, vielleicht so alt wie sie, vielleicht etwas älter, vielleicht auch jünger.
»Bin dir schon seit fast einer Stunde auf den Fersen. Legst einen flotten Schritt vor, bist ja kaum einzuholen. Willst wohl auch zu den Lützowern?«
Eleonora nickte. Besser jetzt nichts Falsches sagen.
»Dann können wir doch zusammen gehen«, schlug er vor. »Zu zweit ist es doch kurzweiliger, als so alleine zu marschieren. Gestatten, Ernst Bellermann, Studiosus der Medizin aus Berlin«, stellte er sich vor. »Und wer bist du?«
Eleonora räusperte sich. »August Renz aus Potsdam«, sagte sie mit tiefer dunkler Stimme.
»Na, dann hast du ja schon ein ganzes Stück mehr Weg hinter dir als ich. Wie lange marschierst du denn schon?«
Eleonora dachte nach. »Es müssen mindestens vier Tage sein. Mein Proviant ist nämlich zu Ende. Ich habe Hunger und Durst. So ein richtiger Schoppen täte mir jetzt gut«, fügte sie burschikos hinzu.
»Dann lass uns gemeinsam einkehren. In Cottbus weiß ich einen guten Gasthof«, sagte Bellermann.
Eleonora zuckte zusammen. Cottbus? Das war ihr zu gefährlich. Sie wusste zwar nicht, ob Babette überhaupt noch am Leben war, aber wie der böse Zufall so manchmal spielen konnte … Lieber kein Risiko eingehen.
»Ich wollte heute eigentlich noch über die Neiße«, behauptete sie großspurig.
Bellermann zuckte mit den Schultern. »Scheinst ja wirklich gut zu Fuß zu sein. Von mir aus auch heute noch über die Neiße. Dann willst du also tatsächlich auch nach Breslau?«
Eleonora nickte nur, ohne zu wissen, was es mit dieser Frage für eine Bewandtnis hatte. Das erfuhr sie von Bellermann. Sie war die vergangenen Monate mit so vielen anderen Dingen beschäftigt gewesen, dass sie politisch überhaupt nicht mehr auf dem Laufenden war. Innerhalb von drei Tagen hatte Bellermann ihre Wissenslücken gestopft.
»Ich bin Mitglied des Geheimen Deutschen Bundes«, erzählte er ihr voller Stolz gleich am ersten Abend.
Sie hatten es tatsächlich über die Neiße bis nach Sommerfeld geschafft.
»Schon seit fast zwei Jahren habe ich draußen in der Hasenheide meine körperlichen Übungen gemacht. Ich kann sogar schwimmen.« Er unterbrach sich und schaute Eleonora an. »Kannst du schwimmen?«
»Nein!« Das Hundegeplansche mit den Komtessen im See von Neu-Prewitz hätte man kaum als Schwimmen bezeichnen können. Und als sie dann älter wurden, war diese unbefangene Herumtoberei mit Anton und den anderen Fischerkindern nicht mehr comme il faut gewesen und damit untersagt worden.
»Und Turnen?«
»Turnen?«, wiederholte Eleonora.
»Körperliche Ertüchtigung ist wichtig für einen Soldaten, nicht nur für einen Soldaten, sondern für jeden deutschen Mann«, behauptete Bellermann und warf sich in die Brust. Dann schob er den Ärmel
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