Flamme der Freiheit
ein Sieb seihen und mit Wasser verdünnen. Ein Löffel Honig dazu, und du wirst sehen, deine Prinzessin wird es trinken.«
Maries Stimme klang ihr im Ohr, während sie hektisch hin und her wirtschaftete. Gut, dass ihr Vater mittlerweile so schwerhörig war und von dem mitternächtlichen Spektakel nichts mitbekam. Das zumindest verkündeten die lauten Schnarchtöne hinter der Wohnstubentür, wo er auf dem Sofa nächtigte.
Mit fliegenden Händen hatte Eleonora ihrer kleinen Tochter das erste Fläschchen ihres Lebens zubereitet.
»Lieber Gott, mach, dass sie es trinkt, lass sie es trinken, sie muss es trinken, sie soll satt werden«, flehte sie zum Himmel, als sie die Flasche aufgoss. Sie prüfte die Wärme mit der Wange, wie Marie ihr beigebracht hatte, und eilte zurück in die winzige Kammer, wo Rieke immer noch schrie. Sie hob das brüllende Kind aus der Wiege, setzte sich auf ihr Bett und kuschelte es in die Beuge ihres linken Arms. Mit der rechten Hand schob sie ihm ganz, ganz vorsichtig den Schnuller der Milchflasche in den Mund. In der ersten Sekunde schien das Baby perplex, spuckte den ungewohnten Gegenstand aus, aber dann siegten der Saugreflex und der Hunger. Nach wenigen Sekunden verkündete ein leises schmatzendes Glucksen, dass Rieke die Flasche akzeptiert hatte.
Eleonora atmete erleichtert auf. Aber dann kamen die Tränen. Sie begann zu weinen und konnte nicht mehr aufhören. Der Morgen begann schon zu grauen, als ihre Tränen endlich versiegten. Sie wusste nicht, wie lange sie geweint hatte. Irgendwann hatte sie ihre kleine Tochter in die Wiege gelegt, wo diese friedlich weiterschlummerte. Eleonora war jetzt völlig erschöpft, aber auch auf eine seltsame Weise erleichtert.
Sie schneuzte sich die Nase und tupfte sich die Wangen trocken. Da bemerkte sie, dass sie immer noch auf der Kante ihres schmalen Bettes kauerte. Sie ließ sich erschöpft beiseitefallen, streckte sich aus, zog die Bettdecke über die Ohren und schloss die Augen. Nach einer Weile schlug sie sie wieder auf. Sie konnte keinen Schlaf finden. Dazu war sie immer noch zu aufgewühlt. Und die Bilder, die vor ihrem inneren Auge aufstiegen, wenn sie sich zurücklehnte, wollte sie nicht sehen. Sie schmerzten immer noch zu sehr.
Eleonora erhob sich und zog das graugestreifte Hauskleid an, das sie nachlässig über den Stuhl gehängt hatte. Sie schlüpfte in die einfachen Pantinen, die sie im Haus trug, und begab sich in die Küche. Ob ihr Vater noch etwas von dem guten Kaffee, den ihm die alte Zedlitz immer zu Weihnachten schenkte, übrig gelassen hatte? Eine frisch aufgebrühte Tasse Kaffee würde ihr jetzt guttun. Ihr Blick fiel auf das Kräuterbündel, das ihr Marie gestern noch mitgegeben hatte. »Extra für dich gesammelt, meine Spezialmischung, die den Milchfluss anregt«, hatte sie gesagt. Eleonora schluchzte auf. Beinahe wäre sie erneut in Tränen ausgebrochen.
»Wenn ich nicht mehr stillen kann, darf ich wenigstens wieder richtigen Kaffee trinken«, versuchte sie sich selbst zu trösten. Marie hatte ihr den Türkentrank nämlich schon vor Riekes Geburt strikt untersagt. Aber auch der Gedanke daran machte Eleonora nicht fröhlicher. Sie zog die kleine Lade der hölzernen Kaffeemühle, die oben auf dem Küchenschrank stand, vorsichtig auf. Glück gehabt, ihr Vater hatte noch einen Rest gemahlenen Kaffee übrig gelassen. Sie schüttete ihn in den großen Emaillebecher, der griffbereit in dem kleinen Regal über dem Küchenherd stand, und goss das Kaffeepulver mit kochendem Wasser auf. Sie stellte den Becher auf den hölzernen Küchentisch und griff nach dem davorstehenden Stuhl, um sich darauf niederzulassen. Verheißungsvoll stieg der Duft des frisch aufgebrühten Bohnenkaffees in ihre Nase. Es würde noch ein bisschen dauern, bis sich der Kaffeesatz auf dem Grund des Bechers abgesetzt hatte. Eleonora sog den Geruch tief in sich hinein. Es tat ihr gut. Sie rückte den Stuhl noch ein bisschen näher an den Tisch heran und griff nach dem darauf liegenden, mit fetten Lettern bedruckten Stück Papier, das sie jetzt erst entdeckte. Ein Flugblatt? Ihr Vater musste es gestern aus Potsdam mitgebracht haben.
Eleonoras Blick fiel auf die erste Zeile. »An mein Volk!« Erst beiläufig, dann mit wachsendem Interesse und schließlich unter Hochspannung las sie den Aufruf des Königs von Preußen. Sie war überrascht. Niemals hätte sie geglaubt, dass der als so dröge geltende Friedrich Wilhelm III . solch leidenschaftliche und überzeugende
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