Flamme der Freiheit
übrig geblieben waren, an die die Schere nicht mehr herankam. Erst jetzt schaute sie wieder bewusst in den Spiegel. Ein schmalgesichtiger, blasser Jüngling schaute ihr entgegen, große Augen, feine Züge, aber unbestreitbar ein Mann.
»Guten Morgen, August Renz«, sagte Eleonora zu ihm. »Es wird Zeit zum Aufbruch, die preußische Armee wartet auf dich.«
32
I n der Nacht darauf stahl sich Eleonora aus dem Haus. Es kostete sie viel Kraft, den ganzen Tag gelassen zu bleiben und am Abend so zu tun, als wäre es wie jeder andere. Ihr Vater hatte zunächst etwas erstaunt geguckt, als sie Rieke die Flasche gab.
»Meine Milch ist versiegt«, sagte Eleonora nur kurz.
Brummelnd wandte er sich ab. Es wäre ihm unangenehm gewesen, dieses Thema zu vertiefen. Das war Frauensache. Genauso wenig kommentierte er, dass Eleonora plötzlich ein Kopftuch trug. Es war ein einfaches Leinentuch, das sie sich fest um den Schädel gewunden hatte. Darunter wirkte ihr Gesicht noch schmaler und die Augen noch größer. Wenn sie sich so schöner fand.
Während ihr Vater zum Musikunterricht in Potsdam weilte, hatte Eleonora seinen Kleiderschrank durchstöbert. Eine dunkle Hose, eine Weste und ein Hemd hatte sie gefunden, alles noch ganz passabel. Sie probierte die Sachen an. Sie waren viel zu groß. Gut, dass ihr Vater nicht vor dem späten Nachmittag zurückkehrte und sie daher genügend Zeit hatte, die Hose zu kürzen und enger zu machen. Weste und Hemd ließ sie so, wie sie waren.
Rieke lag derweil in ihrer Wiege und gluckste leise. Eleonora gab ihr dreimal ein neues Fläschchen, damit sie am Abend umso besser schlafen würde.
»Ich bin ja so glücklich, dass du so gut trinkst«, sagte sie und küsste ihre Tochter auf die rosige Wange. »Ach, Rieke, es fällt mir so schwer zu gehen, aber ich muss gehen. Eines Tages kehre ich zurück. Dann werde ich dir eine richtig gute Mutter sein. Das kann ich aber erst, wenn ich die Schmach, die mir angetan wurde, gerächt habe.« Ihre Tochter verzog das Gesicht zu einem zahnlosen Lächeln. »Rieke, du hast mich das erste Mal angelächelt!« Eleonora riss die Kleine aus der Wiege und drückte sie an sich. Tränen liefen ihr die Wangen hinab. »Wenn du wüsstest, wie schwer mir der Abschied fällt. Aber ich kann nicht bleiben.« Das Schluchzen, das bei diesen Worten in ihr aufstieg, kam von ganz unten. Sie wiegte ihre Tochter in ihren Armen, bis diese eingeschlummert war. Vorsichtig legte sie sie in die Wiege zurück.
Eleonora ging in die Küche. Sie benötigte Proviant. Der Bestand der Vorratskammer im Hause Prohaska war bescheiden, kein Vergleich zu dem, was sich in den Regalen der Prewitzschen Küche an kulinarischen Schätzen türmte. Auch bei Pistors oder Pfarrer Behlow war die Speisekammer stets wohl gefüllt. Etwas bescheidener sah es hingegen bei dem Junggesellen Hedebrink aus, aber auch da war es immer noch mehr gewesen als das, was Eleonora nun für ihre bevorstehende Reise ins Ungewisse einpacken konnte. Sie fand einen Korb verrunzelter Winteräpfel, die sie eigentlich schon zu Mus hatte verarbeiten wollen. Gut, dass Marie vorgestern drei Laib Brot aus dem Backhaus vorbeigebracht hatte. Eleonora schnitt einen von ihnen in der Mitte durch und wickelte beide Hälften in ein kariertes Geschirrtuch. Da lag ja auch noch eine Dauerwurst. Kurzerhand packte sie diese ebenfalls ein und dazu noch einen kleinen Steinguttopf mit Schmalz. Mehr durfte es nicht werden. Und zu trinken? Sie musste doch unterwegs auch etwas zu trinken haben. Unschlüssig ließ sie ihren Blick über das kärglich bestückte Regal der winzigen Kammer neben der kleinen Küche wandern. Da stand ein Krug mit Milch, daneben eine Schüssel mit saurer Milch, die noch fest werden sollte. Beides war nicht für eine Wanderschaft geeignet. Vielleicht reichte ja auch nur ein Emaillebecher, mit dem sie sich unterwegs das Wasser aus klaren Bächen schöpfen konnte. Aber hatte ihr Vater nicht noch irgendwo eine alte Feldflasche stehen? Eleonora entdeckte sie tatsächlich im hintersten Winkel des alten Küchenschranks. Sie nahm sie und ging hinaus zur Wasserpumpe vor dem Haus, um zu prüfen, ob sie noch wasserdicht war. Die große Wasserkanne für das Trinkwasser nahm sie gleich mit, um sie aufzufüllen. Gut, dass Marie ihr gleich drei Glasfläschchen mitgebracht hatte. So konnte sie für Rieke einen kleinen Vorrat kochen.
Sie schluchzte auf bei dem Gedanken daran, wie diese heute Nacht aufwachen und vergeblich vor Hunger schreien
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