Flamme der Freiheit
Mund. Diese Bemerkung war ihr einfach so entschlüpft. Sie wollte nicht undankbar sein. Aber die Ungewissheit ihrer Zukunft machte ihr zu schaffen. Ihre schönsten Hoffnungen waren von Alexander erbarmungslos zerstört worden. Damit hatte sie sich abzufinden, so schwer es ihr auch immer noch fiel. Es gab kein Zurück mehr, nur noch ein Vorwärts.
Eleonora musterte sich erneut im Spiegel. Ein Paar riesengroße graue Augen dominierten in einem schmalen Gesicht. Zu schmal war es in den letzten Wochen geworden. Auch die dunklen Ränder, die von Schlaflosigkeit zeugten, zeichneten sich immer noch viel zu deutlich ab. Blass war sie. Ihre Haut hatte den feinen Alabasterschimmer verloren. Ihre dichten blonden Haare glänzten auch nicht mehr wie einst. Sie hatte sie hinten am Kopf in einen losen Knoten zusammengebunden. Sie hob ihn an. Die feine Linie ihres Nackens war nicht verlorengegangen. Alexander hatte sie besonders geliebt.
»Schwanenhals«, hatte er immer zärtlich gesagt, wenn er mit dem Zeigefinger die Beuge ihres Halses nachzog. Noch bei der Erinnerung daran überlief Eleonora ein leichter Schauer. Im nächsten Moment ergriffen sie Wut und Zorn. Nie mehr würde sie sich von einem Menschen so demütigen lassen wie vom Vater ihres Kindes. Sie hob den Haarknoten noch ein bisschen höher, zupfte ein paar lockige Strähnen an den Schläfen hervor und wandte das Gesicht von links nach rechts. Ihr Profil hatte sich nicht verändert, keine Spur eines gefürchteten Doppelkinns, das so viele junge Mütter nach einer Schwangerschaft beibehielten. Sie streifte sich den Träger ihres Baumwollnachthemds von der Schulter. Sie war immer noch rund, genauso wie ihre Brüste, die niemals zuvor so fest und prall gewesen waren. Das lag am Stillen. Sie hob den Kopf, strich sich mit der Hand vom Kinn über den Hals bis hinunter zum Ansatz ihres Busens. Die Frau, die ihr da aus dem Spiegel entgegenschaute, war ihr fremd. Sie war schön, aber das war kein junges unschuldiges Mädchen mehr. Ihr gegenüber saß eine Frau, eine junge, schöne Frau, aber dennoch zu dünn. Wirkte sie nicht schon leicht verhärmt? Vielleicht hatte Marie ja doch recht, dass sie mehr essen und ein bisschen mehr an die frische Luft gehen sollte?
Eleonora nahm sich vor, nach dem Frühstück mit ihrer Kleinen einen ausgedehnten Spaziergang zu machen. Ihr Vater hatte schon am frühen Morgen das Haus verlassen. Sie erwartete ihn nicht vor dem Abend zurück. Sie beschloss, sich endlich wieder auf ihre fast vergessenen Kochkünste zu besinnen. Erbsen und Möhrchen aß Vater für sein Leben gern. Vielleicht sollte sie versuchen ihrer kleinen Rieke ein bisschen frisch gepressten Möhrensaft einzuflößen. Beim Gedanken an das erstaunte Gesicht und das zu erwartende protestierende Spucken der Kleinen musste Eleonora unwillkürlich lachen.
Mit einem Riesenkrach flog in diesem Moment die Tür der kleinen Schlafkammer auf. Eleonora sah, wie ihre Tochter in der Wiege vor Schreck zusammenfuhr, aber weiterschlummerte.
Im Türrahmen stand ein Soldat, der wild um sich blickte. Ein Franzose! Eleonora erkannte ihn sofort an seiner Uniform. Der Fremde stand wie angenagelt. Aber sein Blick gefiel ihr nicht. Nein, der ganze Mann gefiel ihr nicht. Er war unrasiert, lange filzige Haare fielen ihm fast bis auf die Schultern. Seine Uniform war dreckig, Culotte und Gamaschen zerschlissen, der einst so schmissige Zweispitz kaum mehr wiederzuerkennen. Der Bicorne war zu einem Klumpen Filz zusammengeschrumpft, den der Soldat tief in die Stirn gedrückt hatte. Für die längst schon üblich gewordenen langen Hosen und den feschen Tschako der napoleonischen Armeen hatte der Sold dieses Soldaten nicht gereicht. Wie hatte es diesen armen Kerl ausgerechnet hierher verschlagen? Eleonora verspürte im ersten Moment mehr Mitleid als Furcht vor dieser abgerissenen Erscheinung.
»Faim, soif, pain et de l’eau«, stieß der Soldat hervor. Es war eine Mischung aus Lallen und Brüllen, aber nun doch furchterregend. Eleonora fühlte, wie ihr eine eiskalte Gänsehaut über den Rücken kroch.
»Vous désirez, Monsieur?«, fragte sie kühl. Sie musste sich zusammenreißen, um diese Geistesgegenwart zu bewahren.
Die Anrede in seiner Muttersprache schien den Soldaten zu irritieren, aber nur sekundenlang. Dann stürzte er sich auf sie. Eleonora hatte keine Gelegenheit, ihm auszuweichen. Mit einem Sprung warf er sich auf sie, riss sie zu Boden und kniete auf ihr nieder. Er riss ihr die Hände vom Gesicht
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