Flamme der Freiheit
strahlenden Sonnenaufgang am frühen Morgen konnte nur wenige Stunden später ein fürchterliches Gewitter folgen mit Sturm und Hagel. Ein paar Tage lang verschwand die Frühlingslandschaft sogar wieder unter einer weißen Schneedecke. Rieke hätte fast geweint, als sie sah, wie die ersten Tulpenblüten in Großvaters Garten die Köpfe hängen ließen, weil sie im eisigen Nachtfrost erfroren waren.
Aber heute?
»Ich glaube, wir haben es geschafft«, hatte der Großvater beim Frühstück gesagt. »Jetzt hält der Frühling endlich richtig Einzug. Wir werden also doch eine grüne und keine weiße Ostern feiern.«
»Ich wünschte, ich wäre meinen blöden Verband endlich los. Mein Bein muss doch endlich geheilt sein.«
»Das entscheidet Marie«, hatte der Großvater bestimmt. »Die wird morgen wieder vorbeischauen und feststellen, ob du den Verband abnehmen kannst. Musst dich eben noch ein bisschen gedulden.«
»Gedulden, gedulden, immer soll ich mich gedulden«, hatte Rieke gemurrt. »Seit Wochen soll ich mich gedulden, muss immer in der Stube sitzen, anstatt draußen zu spielen.«
»Ja, das Stillsitzen, das fällt dir wirklich schwer, mein kleiner Kobold«, hatte der Großvater zärtlich gesagt. »Aber weißt du was, ich werde dir heute einen Stuhl und einen Hocker hinausstellen. Da kannst du dein Gesicht ein bisschen in die Sonne halten und frische Luft schnappen. Das wird dir guttun.«
So hielt Rieke nun schon seit einer guten Stunde ihr Gesichtchen in die Sonne und genoss es mit vollen Zügen. Endlich wieder Wärme, Licht und die Strahlen der lange vermissten Sonne auf der Haut kribbeln fühlen. Sie fanden kaum einmal ihren Weg durch die winzigen Fenster in das Innere des Hauses.
Rieke dachte nach. Sie hatte viel nachzudenken. Großvater hatte ihr im Verlauf der vergangenen Wochen die Geschichte ihrer Mutter erzählt. Zum Schluss hatte er ihr sogar den Brief, den diese am Tage vor ihrer Verwundung geschrieben hatte, ganz langsam vorgelesen.
»Ich weiß nicht, warum sie ihn an ihren Bruder anstatt an mich schreiben wollte«, hatte Großvater traurig gesagt. »Dabei war ihr Bruder doch schon seit drei Jahren tot.«
Es war das erste Mal, dass Rieke ihn hatte weinen sehen. Großvater war also nicht so groß und stark, wie sie immer geglaubt hatte. Diese Erkenntnis ließ sie gleich ein bisschen mitweinen. Aber heute Morgen war er gut gelaunt gewesen. Summend hatte er ihr den Stuhl vor das Haus gestellt, den Schemel gleich dazu, und sie sorgfältig in eine Decke gewickelt.
»Wenn du etwas brauchst, dann ruf nach mir«, hatte er gesagt und ihr noch einen Becher Milch auf den Schemel gestellt. »Pass auf, dass du ihn nicht gleich mit deinem Fuß hinunterstößt.«
Rieke mummelte sich ganz fest in ihre Decke. Aus dem Innern des Hauses hörte sie vereinzelte Trompetentöne, dann das dröhnende Lachen ihres Großvaters. Seine gute Laune hatte ihn tatsächlich immer noch nicht verlassen, obwohl die kläglichen Töne, die sein neuer Schüler Karl seiner Trompete entlockte, eher zum Weinen waren. Normalerweise ließ Großvater nach so einem verpatzten Spiel ein Donnerwetter los. Aber das schöne Frühlingswetter hatte ihn heute sehr milde gestimmt.
Rieke fuhr hoch, als sie ein unbekanntes Pferdewiehern vernahm. Verwirrt wischte sie sich mit der Hand über die Augen. Sie musste eingeschlafen sein. Ein dunkler Schatten fiel ihr über das Gesicht. Sie erkannte nur die Silhouette eines Mannes und hinter ihm die eines riesigen Pferdes.
»Wer sind Sie, was wollen Sie?«, fragte sie erschrocken.
»Aber Friederike Ulrika, erkennst du mich nicht wieder?«, hörte sie eine fremde Männerstimme. Nein, es war keine fremde Stimme. Sie kannte diese Stimme, sie würde sie niemals vergessen. »Ich bin es, dein barmherziger Samariter«, sagte der lange Schatten.
Rieke legte die Hand über die Augen. »Graf von Prewitz zu Kirchhagen?«, sagte sie gedehnt. »Sie stehen so in der Sonne, ich kann Sie gar nicht richtig erkennen.«
»O Verzeihung. Ist es so besser?«, entschuldigte sich der Graf und sprang beiseite. Das Pferd scharrte mit den Vorderhufen und wieherte leise.
»Wieso haben Sie Ihr Pferd mitgebracht?«, erkundigte sich Rieke neugierig.
»Das ist Sultan, der Missetäter. Er möchte sich bei dir entschuldigen«, erklärte Graf Alexander.
»Haha, ein Pferd! Wie kann sich ein Pferd bei mir entschuldigen, und wofür soll es sich bei mir entschuldigen?«, sagte Rieke lachend.
»Natürlich kann sich ein Pferd
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