Flamme der Freiheit
vergangenen Tagen gewaschen habe.«
Erst jetzt schien Eleonora so richtig zu sich zu kommen. Verwirrt schaute sie um sich. »Wo bin ich? Was mache ich hier? Was ist passiert?«
»Du bist vor einer Woche bei einem Gefecht an der Steimker Höhe draußen in der Göhrde verwundet worden«, erklärte die Witwe Lübbert. Sie setzte sich auf die Bettkante und schlug die Decke zurück. »Nun lass mal schauen.«
»Nein!« So schwach sie war, gelang es Eleonora doch, ihr die Decke zu entreißen und sie bis unter das Kinn zu ziehen.
»Kind, wir wissen alle, dass du ein Mädchen bist«, sagte Witwe Lübbert nachsichtig. Mit Riesenaugen starrte Eleonora die Witwe an. Die nutzte die Gelegenheit und zog ihr die Decke wieder weg. Eleonora war verstört. Widerstandslos duldete sie, dass die Witwe ihr das Nachthemd hochschob und den Verband löste. Sie gab sich viel Mühe, vorsichtig zu sein, aber dennoch tat es weh. Jede Berührung, war sie noch so sanft, verursachte Eleonora unerträgliche Schmerzen. Sie stöhnte. Nun lag die Wunde endlich offen. Witwe Lübbert beugte sich über sie und schüttelte den Kopf. »Das sieht gar nicht gut aus«, murmelte sie.
»Was sieht nicht gut aus? Nun sagen Sie mir doch endlich, was passiert ist.«
»Du bist von einer Kartätschenkugel im Oberschenkel erwischt worden. Wir haben zwar alles getan, um das Geschoss zu entfernen, aber …« Sie verstummte.
»Was aber?«
»Ich fürchte, der Feldscher hat nicht alles rausschneiden können. Deine Wunde beginnt zu eitern. Es könnte sein …«
»Nicht amputieren, auf keinen Fall amputieren, ich will mein Bein behalten. Ich brauche es noch.«
Woher nahm Eleonora nur die Kraft, jetzt noch so laut zu schreien. Aber es war zu viel gewesen. Sie verlor das Bewusstsein.
Über Nacht trat der gefürchtete Wundbrand ein. Eleonora schrie, weinte, bat um Hilfe, flehte im nächsten Moment darum, ihrem Leben ein Ende zu setzen, und unmittelbar darauf: »Ich will nicht sterben, ich darf nicht sterben, ich werde noch gebraucht.«
Stundenlang flüsterte sie es vor sich hin, immer dann, wenn sie bei Bewusstsein war. Wenn sie es verlor, tauchte sie in andere Welten und Zeiten ab. Wie ein buntes Kaleidoskop zog ihr Leben an ihr vorüber. Einmal vermeinte sie sich wieder im Potsdamer Waisenhaus zu befinden, auf der verwanzten Strohmatte unter einer feuchten Filzdecke.
»Mir ist so kalt!«, klagte sie. Eleonora hatte tatsächlich Schüttelfrost.
Witwe Lübbert holte ihr eine Wärmflasche, legte noch ein zweites Federbett über sie und versuchte ihr ein paar Löffelchen frische Hühnerbrühe einzuflößen.
»Babette«, flüsterte Eleonora. »Gut, dass du endlich da bist.«
Witwe Lübbert ließ sie in ihrem Glauben.
»Wo ist meine Trommel?«, fuhr sie nach kurzem unruhigem Schlummer hoch. »Ich muss zum Angriff trommeln. Wo ist Leutnant Förster? Er ist doch verletzt?«
»Ich bin hier, Renz«, sagte Leutnant Förster, der gerade wieder zu einem Krankenbesuch eingetroffen war. »Willst du deine Trommel haben?« Eleonora nickte. »Ich bringe sie dir morgen mit«, versprach er. »Kann ich sonst noch was für dich tun?«
Aber Eleonora war schon wieder in ihren Dämmer gesunken. »Friederike, Riekekind«, flüsterte sie noch.
Er beugte sich über sie. »Wer ist Friederike?«
»Meine Tochter«, hauchte Eleonora.
»Deine Tochter? Du hast eine Tochter, du bist Mutter?«
Eleonora nickte mit geschlossenen Augen.
»Aber natürlich, Majestät, sehr gerne singe ich für Sie noch ein Lied. Was möchten Sie denn gerne hören?«, flüsterte sie plötzlich und lächelte. Sekundenlang schien ihre ganze Schönheit aufzuleuchten und erlosch genauso schnell wieder.
Leutnant Förster schüttelte den Kopf und blickte ratlos auf die blasse Eleonora hinab. Er hatte Tränen in den Augen. Auf Zehenspitzen verließ er den Raum.
Eleonora setzte ihre Reise in die Vergangenheit fort. Alle geliebten Gesichter tauchten vor ihr auf. Sie war wieder auf dem Sophienhof, im nächsten Moment saß sie mit dem alten Farini am Flügel und hörte zu, wie er ihre künstlerische Laufbahn in den glühendsten Farben ausmalte. Sie lehnte an Gräfin Dorotheas Knie und vermeinte ihre leichte Hand auf ihrem Scheitel zu spüren. Sie lachte mit Sophie und Charlotte und erbebte unter dem ersten Kuss von Alexander.
»Alexander«, seufzte sie.
»Nein, ich bin es, Arnold.« Dem Jungen liefen die Tränen über die Wangen. Neben ihm stand Ernst Bellermann. Dieser hatte darauf bestanden, seinem Kameraden einen
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