Flamme der Freiheit
würde ihr rasch auffallen, dass diese ein ganz anderes Leben führten, in einer Familie mit Mutter, Vater, Brüdern und Schwestern, alle viel jünger als ihr Großvater, der »olle Prohaska«. So nannte ihn das ganze Viertel. Rieke kannte es nicht anders, hatte keine Ahnung, dass ihr Familienleben sich von dem der anderen unterschied, wusste nicht, was es hieß, richtige Eltern zu haben. Sie vermisste diese auch nicht, denn sie wurde geliebt, aus tiefstem Herzen geliebt von ihrem Großvater, einem Invaliden des Koalitionskrieges. Wie ein undurchdringlicher schützender Kokon hatte diese fürsorgliche Liebe Rieke seit ihrer Geburt umgeben und sie zu einem selbstbewussten, glücklichen kleinen Mädchen heranwachsen lassen.
Ja, Rieke war glücklich, an diesem Tag besonders glücklich. Nicht einen Gedanken verschwendete sie an Großvater, hatte keine Ahnung, dass dieser zu Hause im Lehnstuhl saß und sich ganz schrecklich grämte. Rieke sang und hopste fröhlich den Feldweg entlang, immer weiter, immer weiter. Die Häuser ihrer Straße waren schon lange hinter der letzten Biegung des Wegs verschwunden. Sie war allein auf weiter Flur, doch das machte ihr überhaupt nichts aus. Im Gegenteil, sie genoss es, endlich einmal dem stets gegenwärtigen Großvater entronnen zu sein. War dieser erste Ausflug nicht ein Zeichen dafür, was für ein großes Mädchen sie mittlerweile war? Fast ein Schulmädchen.
»Ich freu mich so, ich freu mich so, ich freu mich auf die Schule«, sang Rieke und hopste weiter. »Lesen lernen, schreiben lernen und das Rechnen auch dazu, juhu, juhu!«
Stolz auf ihren selbst erfundenen Reim, machte Rieke einen besonders hohen Luftsprung und quietschte vor Vergnügen. Das Leben war doch einfach schön, wunderschön. In einer Woche war Ostern. Großvater hatte versprochen, am Wochenende mit ihr Eier auszublasen und zu bemalen. Das hieß jede Menge Pfannkuchen und Rührei für alle beide, endlich Abwechslung auf dem eintönigen Speisezettel. Dazu der Spaß am Bemalen der Eier, die Freude an den Farben und den Mustern. Wäre es nicht schön, jetzt ein paar Frühlingszweige zu finden, an denen sie ihre Kunstwerke aufhängen konnten? Rieke wünschte sich für ihren Strauß Weidenkätzchen und Haselnusszweige, deren gelbe Puschelschwänzchen sie so lustig fand. Bei einem ihrer Winterspaziergänge im knirschenden Schnee hatte Großvater sie auf die Kopfweiden am Wegrand aufmerksam gemacht.
»Die halten jetzt ihren Winterschlaf, und wenn es Frühling wird, stecken die kleinen Weidenkätzchen an den dünnen Zweigen ihre weißen Köpfchen hinaus, um ihn zu begrüßen.«
Nun war es endlich so weit. Aber wo standen die Weiden? Im gleißenden Sonnenlicht sah die Landschaft so anders aus als in den langen grauen Wintertagen. Schützend legte Rieke ihre Hand über die Augen und ließ den Blick über Felder und Wiesen schweifen. War da soeben nicht ein Rebhuhn vorbeigehuscht oder ein Fasan oder gar eine der seltenen Trappen? Dank Großvater kannte sie sich gut in der freien Natur aus und wusste allerlei Pflanzen und Getier zu benennen. So erkannte sie die kleinen blassgelben Blumen, die sich büschelweise im Winde wiegten, auf der Stelle.
»Schlüsselblumen«, jauchzte Rieke. Mit einem Sprung war sie mitten auf der Wiese gelandet. Sie stolperte und verlor das Gleichgewicht. »Parbleu, jetzt ist mon arrière nass geworden«, stellte sie sachlich fest und beließ es dabei. Sie kniete nieder und begann die Schlüsselblumen zu pflücken. Sie vergaß Ort und Zeit um sich her, sah immer nur den nächsten Blütenstengel, den sie pflücken musste. Es war wie ein Rausch. Längst reichten ihre kleinen Hände nicht mehr aus, um die vielen Blumen zusammenzuhalten. Den ersten Bund legte sie auf die Wiese beiseite, um den nächsten zu pflücken und noch einen und noch einen. Aus der Ferne schlug die Turmuhr zwölf Uhr Mittag. Rieke hörte es nicht. Bestürzt stellte sie fest, dass sie außer ihren zwei Händen nichts dabeihatte, womit sie ihre überreiche Ernte nach Hause bringen konnte. Das war ja ganz schön dumm. Ratlos steckte sie den Finger in den Mund und überlegte. Ob sie ihren Rock einfach schürzte?
Sie kam nicht dazu, ihren Gedanken zu Ende zu denken, hatte sich aber so auf diesen konzentriert, dass sie das sich nähernde Geräusch galoppierender Pferdehufe nicht wahrnahm. Auch das helle Klirren, das erklang, wenn Metall auf Stein traf, überhörte sie. Erst als der riesige schwarze Hengst wiehernd querfeldein auf
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