Flamme der Freiheit
noch stockdunkel, als Eleonora am nächsten Morgen erwachte. Irgendetwas war anders als in den vergangenen Wochen. Sie konnte nicht sofort ausmachen, was es war. Anders waren die Geräusche, die von draußen zu ihr durch das Fenster und die fest zugezogenen Vorhänge durchdrangen. Sie wirkten noch gedämpfter als sonst. Eleonora tastete mit der Rechten über ihren Nachttisch nach den Streichhölzern. Die hatte sie sich gestern Abend vor dem Einschlafen noch mit einem Kerzenstummel bereitgelegt. Sie entfachte ein Zündholz. Auf Anhieb gelang es ihr auch, den Kerzenstummel zu entzünden. Die Hand schützend vor das schwache Flämmchen haltend, tapste sie zum Fenster und zog den Vorhang zurück.
»O nein!«, rief sie aus. Im fahlen Morgenlicht des späten Herbstes sah die dichte Schneedecke mehr grau als weiß aus. Unablässig tanzten dicke Flocken zur Erde. »Dann werden wir nicht so schnell nach Berlin kommen«, seufzte sie resigniert und begann mit ihrer Morgentoilette, die dieses Mal den Luxus des warmen Wassers entbehren musste. Babette hatte unten mit der Vorbereitung von Frühstück und Mittagessen genug zu tun. Ihre beiden Helferinnen Emma und Paula waren bei diesen Temperaturen mit dem Entzünden von Öfen und Kaminen mehr als ausgelastet. »Hoffentlich ist wenigstens im Frühstückszimmer schon geheizt«, sagte sie fröstelnd zu sich. Sie griff nach der Stola, die sie gestern Abend achtlos auf den Stuhl neben ihrem Bett geworfen hatte, und zog sie um ihre Schultern.
Eleonoras Hoffnung hatte sie nicht getrogen. Im Frühstückszimmer war es richtig schön warm. Brennende Buchenscheite knisterten im Kamin. Mehrere Petroleumlampen waren im Raum verteilt, und auf dem Tisch stand ein silberner Leuchter mit frisch aufgesteckten Kerzen, die Geschirr und Besteck funkeln ließen.
Am Kopf der Tafel saß bereits Gräfin Dorothea, munter und ausgeschlafen, im Gegensatz zu ihren beiden Enkelinnen, die vergeblich ihr Gähnen zu unterdrücken versuchten.
»Ihr könnt wenigstens die Hand vor den Mund halten, wenn ihr ihn schon so weit aufreißen müsst«, rügte sie den hoffnungsvollen Nachwuchs. Lächelnd hielt sie Eleonora ihre Rechte entgegen, die flüchtig den Handkuss darauf hauchte, ehe sie sich auf ihrem Stuhl niederließ.
Wie Babette es immer schaffte, diese leckeren Brötchen so frisch und kross auf den Frühstückstisch zu bringen, war ihr ein Rätsel. Kein Vergleich zu der zähen grauen Grütze, die sie im Potsdamer Waisenhaus in aller Herrgottsfrühe immer voller Ekel in sich hineinstopfen musste. Auch das Frühstück zu Hause später beim Vater war alles andere als üppig gewesen. Meist bestand es nur aus einem Kanten trocken Brot mit Pflaumenmus und einem Schluck Wasser aus der Tonkruke.
Eleonora hatte ihre kargen Jahre niemals vergessen. Noch vor kurzem hatte sie jede Mahlzeit an der Tafel genossen. Bis es ihr vor Kummer den Appetit verschlagen hatte. Aber heute Morgen war es anders. Zum ersten Mal konnte sie wieder herzhaft in das frische Brötchen beißen und sich an dessen Geschmack erfreuen. Babettes selbstgemachte Himbeerkonfitüre war aber auch ein Genuss. Dafür lohnten sich die vielen Kratzer, die sie sich jeden Sommer in der Hecke holte, wenn Babette sie einmal wieder zum Pflücken aufgefordert hatte. Auch von den jungen Komtessen wurde diese Hilfe erwartet, denn sie sollten ja später ihren eigenen Haushalt führen, und »man kann keine Arbeit kontrollieren, wenn man sie nicht kennt, das gilt für alle Bereiche«, lautete das Verdikt von Gräfin Dorothea. Sie ließ es sich in der Erntezeit nicht nehmen, selbst die reifen Früchte zu pflücken, tauchte mit breitrandigem Hut und Gazeschleier höchstpersönlich im Küchengarten auf, um sich zwischen die dichtbepflanzten Reihen des Erdbeerbeets zu kauern. Sehr zum Ärger der Waschfrauen, die hinterher stundenlang ihre Sommerkleider auf dem Waschbrett zu schrubben hatten, bis die roten Flecken aus dem hellen Leinenstoff endlich wieder entfernt waren.
Gräfin Dorothea griff zu dem Stapel für sie bereitgelegter Zeitungen. Graf Ludovic hatte die neuesten Ausgaben aus Berlin mitgebracht. Selbstverständlich hatte Jean den Stapel noch gestern Abend mit hinunter ins Souterrain genommen, um das zerknitterte Papier mit dem heißen Plätteisen zu bügeln, um Ihre Erlaucht so der Gefahr zu entheben, sich mit Druckerschwärze zu beschmutzen.
»Interessant, interessant«, murmelte sie während ihrer Lektüre. »Napoleon möchte Joséphine den Umgang mit ihren
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