Flamme der Freiheit
meinte Sophie fröstelnd. Sie mochte die Winterkälte nicht.
Aber wer von den Damen des Hauses liebte sie überhaupt? Dabei hatten sie keine Ahnung, was richtige Kälte bedeutete. Nur mit Grauen erinnerte sich Eleonora an die durchgefrorenen Nächte des riesigen Schlafsaals im Potsdamer Waisenhaus. Die Decke war klamm und des Morgens sogar häufiger gefroren. Das stachelige Strohkissen war ebenfalls feucht gewesen, roch muffig und pikste in die empfindlichen Wangen der Kinder. Die Folgen waren Ausschlag, ja, manchmal kleine Wunden, die sogar zu eitern begannen. Warme Kleidung und feste Schuhe gab es auch nicht. Sommer wie Winter musste sie mit ollen Holzpantinen durch die Gegend klappern. Erst der Vater hatte ihr das erste Paar richtig feste Schuhe geschenkt. Verstohlen streckte sie nun einen Fuß unter dem Saum ihres Kleides hervor und unterzog die dunkelbraune Stiefelette einer liebevollen Betrachtung. Und wenn es auch eine leichte Sommerstola war, die sie jetzt um die Schultern liegen hatte, war es doch immer noch mehr als damals im Waisenhaus, wo das ständige Frieren der grausamste und unerbittlichste Begleiter des trostlosen Alltags war. Wie gut es ihr hingegen mittlerweile ging! Und wie so oft schaute Eleonora ihre Gönnerin voller Zuneigung und Dankbarkeit an.
Kaum wieder in die Kutsche eingestiegen, war Gräfin Elisabeth bereits eingeschlafen. Eleonora konnte gar nicht so rasch mitdenken, wie die anderen drei schon in ein Gespräch über die zu schneidernden Ballroben verwickelt waren. Welche Farbe stand wem am besten, welcher Stoff, ob Mademoiselle Durand überhaupt Kapazitäten frei hatte, ob die Lieferung der Seidenballen aus Lyon wohl schon eingetroffen war, ob die hohe Empiretaille für die mollige Sophie nicht doch etwas ungünstig war, ob mit oder ohne Haube und Halsband oder dem Kinnband, das Königin Luise als modisch letzten Schrei vor wenigen Jahren in Preußen eingeführt hatte. Der alte Schadow hatte unter der Hand verraten, dass sie sich diesen Trick erdacht hatte, um so eine leichte, aber lästige Schwellung in der Kinnbeuge zu kaschieren.
Eleonora verstand nicht so richtig, wie man sich über dergleichen Themen so echauffieren konnte. Sie schaute suchend um sich. Ach, da lag sie ja zu ihren Füßen, eine kleine lederne Reisetasche, die ihr Gräfin Dorothea vergangenes Frühjahr, als es hinaus nach Sophienhof gegangen war, geschenkt hatte. Sie beugte sich nieder und zog die Partitur von
Cosi fan tutte
hervor.
»Nur zum Anschauen, nur einfach mal zum Lesen«, hatte ihr Farini vor einigen Tagen das Studium dieser Mozartoper ans Herz gelegt.
Eleonora hatte zwar nicht das absolute Gehör, aber doch die seltene Gabe, Noten so lesen zu können wie andere Leute Buchstaben. Und nicht nur das, sondern sie genoss das Privileg, dass sich aus den gelesenen Noten in ihrem Kopf bereits die von dem Komponisten geschaffenen Melodien formten und erklangen. So gelang es ihr sogar noch im schwindenden Tageslicht, einige Noten der Partitur zu entziffern. Im Geiste summte sie nun die fröhlichen Melodien Mozarts mit, während Gräfin Elisabeth leise dazu schnarchte.
9
I rgendwann nahm auch einmal diese Fahrt ihr Ende. Das laute Klappern von Pferdehufen auf Pflastersteinen verriet, dass man die Stadtgrenze erreicht hatte.
Es dauerte noch eine Dreiviertelstunde, dann war endlich das erlösende »Brrrrrrr« vom Kutschbock zu hören. Die Kutsche verlangsamte ihre Fahrt und kam schließlich genau vor dem Eingangsportal des Stadtpalais zum Stehen.
Gräfin Elisabeth erwachte aus ihrem Schlummer und schaute verwirrt um sich. »Wo sind wir?«, fragte sie orientierungslos.
»In Berlin, in Berlin, direkt vor unserem Palais«, klärte Sophie sie eifrig auf.
Die Tür der Berline wurde aufgerissen. Eine Laterne beleuchtete die steilen Stufen. Dahinter wurde Graf Ludovics Gesicht erkennbar. Er reichte seiner Gattin den Arm, die behende aus der Kutsche stieg. Ihre beiden Enkelinnen kletterten ihr hinterher.
»Nun, geleitet mich in das Innere des Hauses«, sagte sie zu den jungen Mädchen, die ihr sofort zur Seite sprangen.
»Na komm, meine Liebe, du willst doch nicht bis Mitternacht in der Kutsche sitzen bleiben und deine Kleidung ordnen«, forderte hinter ihnen Graf Ludovic seine Schwiegertochter burschikos auf.
Mit einer zweiten Laterne eilte Graf Wilhelm seinem Vater zu Hilfe, während Kutscher Christian die aufgeregt scharrenden Pferde im Zaum hielt. Sie spürten den heimischen Stall, der am Ende des
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