Flamme von Jamaika
Last, sondern wegen der Lust. Seit dem Bad verströmten ihre Haare einen Duft von Jasmin und Kokos, und ihre Lippen erschienen ihm wie pure Verführung. Er war froh, als er sie absetzen konnte, nachdem sie die Kuppe des Hügels erreichten.
Er schaute sich gründlich um, ob sie nicht beobachtet wurden, dann nahm er ihr vorsichtig die Augenbinde ab. Sie wollte etwas sagen, doch er legte nur einen Finger an ihre Lippen. «Sch…», dann zeigte er mit einer Hand auf eine Aussparung im Felsen. «Dort unten befindet sich unser Krankenlager», flüsterte er.
Lena sah, dass leichter Rauch aufstieg.
«Hier versorgen wir die frisch eingetroffenen Flüchtlinge. Was sich jedoch meist darauf beschränkt, dass wir Verbände wechseln und Kräuter verteilen, die den armen Menschen die Schmerzen nehmen sollen.»
«Können wir näher ran?», fragte Lena wissbegierig, was ihn verblüffte.
Offenbar hatte sie keine Angst vor dem Anblick, der sie erwarten würde.
«Wir müssen aufpassen, dass man uns nicht entdeckt», erklärte er mit gedämpfter Stimme und dirigierte sie zu jener Stelle, an der sich der Durchbruch auftat.
Mit einem Nicken forderte er sie auf, in die darunter befindliche Höhle zu schauen.
Lena kniff die Lider zusammen, um in der Dunkelheit, die sich unter ihr auftat, etwas erkennen zu können. Der aufsteigende Rauch trieb ihr die Tränen in die Augen. Etwa zwanzig Fuß unter ihnen hatten sich im Schein eines Lagerfeuers ausnahmslos dunkelhäutige Menschen versammelt. Bei näherer Betrachtung aber erfasste sie das Grauen.
«O mein Gott», krächzte sie hinter vorgehaltener Hand. «Was ist mit ihnen geschehen?»
Jess fasste sie bei der Schulter und zog sie ein wenig zur Seite, um sich selber ein Bild davon zu machen, was sie am meisten verstörte. Mit belegter Stimme gab er ihr anschließend einige Erläuterungen.
«Es sind ausnahmslos entflohene Sklaven. Die mit den vereiterten Fleischwunden wurden ausgepeitscht oder gebrandmarkt. Auch wenn es in den letzten Jahren aus der Mode gekommen ist, haben viele Plantagenbesitzer ihren Sklaven ein Brandzeichen verpasst, das sie als ihr Eigentum kennzeichnet. Das gibt nicht nur hässliche Narben, häufig werden daraus langanhaltende Eiterwunden. Die anderen, mit den aufgequollenen Gliedmaßen, leiden an einer Krankheit, die man hier Elefantiasis nennt. Arme und Beine schwellen plötzlich zu Baumstämmen an. Sie sind nicht mehr in der Lage zu arbeiten, was nicht selten dazu führt, dass sie fortgejagt werden und elendig verhungern müssen, wenn sich niemand ihrer erbarmt. Und die Ausgemergelten mit den dürren Leibern sind einfach von der harten Arbeit erledigt. Viele von ihnen haben die Schwindsucht. Die meisten haben jahrelang mehr als sechzehn Stunden täglich auf den Zuckerrohrfeldern geschuftet. Irgendwann sind sie umgefallen, und man hat sie für tot erklärt, obwohl sie’s nicht waren. Die Verpflegung wurde eingestellt und ihnen damit jede Aussicht auf Besserung genommen. Und wenn sie niemanden haben, der sie versorgt, sind sie so gut wie dem Tode geweiht.» Er machte ein schnaubendes Geräusch, das seine Verachtung gegenüber den Sklavenhaltern eindrucksvoll unterstrich. «Aus Trelawney ist ein Fall bekannt, wo ein Pflanzer einen nicht mehr arbeitsfähigen Sklaven vor Wut eine Klippe hinabgestürzt hat, um ihn loszuwerden.»
«Herr im Himmel», wisperte Lena und schlug beide Hände vors Gesicht. «Aber viele von denen dort unten sind doch noch gar nicht so alt», flüsterte sie fassungslos, «oder ist das nur eine Täuschung?»
Lena konnte nicht anders, sie musste noch einmal hinabschauen in die düstere Hölle, von der sie kaum glauben konnte, dass sie wahrhaftig existierte. Und diesmal waren es nicht nur stinkende Fleischwunden, die sie entsetzten. Abgehackte Arme und Beine kamen hinzu. Blinde, sich vorantastende Menschen hatten Mühe, ihren Napf zu finden.
«Wer hat ihnen das angetan?», fragte sie dumpf, nachdem sie sich schwer atmend an den nächststehenden Baumstamm gelehnt hatte.
«Du kennst die Antwort», sagte Jess mit einer gewissen Arroganz in der Stimme. «Es sind Pflanzer wie Edward und William Blake, die ihnen das antun. Von Redfield Hall sind auch ein paar Leute dabei. Nur, dass sie dort keiner vermisst, weil sie alt und krank waren und man sie ohnehin schon abgeschrieben hatte. Doch das gilt nicht für diese jungen Burschen in der Todeszelle von Spanish Town, die Edward zu Unrecht beschuldigt hat, Aufrührer zu sein, und die nun deshalb auf
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