Flamme von Jamaika
konnten, hoffte Lena inständig, dass Edward bereits unten an der Anlegestelle auf sie wartete.
Während die Seeleute noch mit dem Vertäuen des Schiffs beschäftig waren, wankte sie zusammen mit etlichen Passagieren über die schmale Brücke. Nach Wochen auf schwankendem Grund dauerte es eine Weile, bis sie sich an festen Boden unter den Füßen gewöhnte.
Auf die exotische Umgebung, die fremden Stimmen und Gerüche, die auf sie einströmten, konnte sie kaum achten. Vielmehr konzentrierte sie sich darauf, in dem Meer von weißen und schwarzen Menschen Edward zu finden. Jedoch war von ihm weit und breit nichts zu sehen.
Mit aufgespanntem Sonnenschirm machte sich Lena schließlich auf ins Büro des Hafenmeisters. Dr. Beacon hatte ihr empfohlen, dort nach aufgegebenen Nachrichten zu fragen. Auf dem Weg zu den blau gestrichenen Hafengebäuden nahm die Anzahl von Negern kontinuierlich zu. Von überall her strömten sie zum Hafen. Manche trugen schwere Lasten auf dem Kopf; andere trieben Maulesel mit vierrädrigen Karren vor sich her, auf denen großes Gepäck geladen war. Die meisten der Männer gingen mit gebeugtem Rücken und schauten missmutig drein, wenn sie ihren Blicken begegnete.
Lena erschrak, als plötzlich neben ihr eine Peitsche knallte und einen der Arbeiter mitten ins Gesicht traf. Wortlos taumelte der Mann zurück, gab aber keinen Laut von sich, obwohl ihm das Blut die Wange hinunterlief. Ein Weißer mit einem breitkrempigen Hut brüllte ihn an, er solle rascher arbeiten. Schnell trat Lena zur Seite, als der Peiniger sich fluchend seinen Weg an ihr vorbei bahnte, offenbar in der Absicht, seine Knute erneut einzusetzen. Am liebsten hätte sie lauthals protestiert, doch was sollte sie tun, falls der rüde Kerl auf sie losgehen würde?
Ach, wenn Edward doch hier wäre!, flehte sie stumm und wandte sich eilig der halb offen stehenden Tür des Hafenkontors zu.
«Tut mir leid, Mylady», erklärte der rundliche Mann hinter der Theke, der trotz der drückenden Hitze eine dunkelblaue Uniform und eine gleichfarbige Kappe trug. «Von Lord Blake oder seinem Sohn liegt mir nichts vor.»
Noch einmal sah er durch die abgegriffene Zettelwirtschaft, die er in einer kleinen Holzkiste aufbewahrte. Sein Schweißgeruch drang Lena unangenehm in die Nase, doch sie hielt es für unhöflich, ihr parfümiertes Taschentuch zu zücken, und zog es deshalb vor, ein wenig auf Abstand zu gehen.
«Aber ich weiß, dass Sir Edward Blake vor knapp einer Woche einen Aufseher zum Hafen geschickt hat», erklärte der Mann nachdenklich. «Trevor Hanson war sein Name. Er fragte mich, wann die
Mary-Lynn
einlaufen würde, und erklärte, dass er notgedrungen noch mal wiederkommen würde, wenn das Schiff vor Anker liegt.»
Lena fühlte sich ziemlich hilflos und verlassen, als sie wieder nach draußen trat. Wieso sollte Edward irgendeinen Kerl schicken, um sie abzuholen? Sie wäre ziemlich enttäuscht, wenn er diese Aufgabe nicht selbst übernähme, nachdem sie sich so lange nicht gesehen hatten. Kaum dass sie von der Veranda in den sandigen Vorhof getreten war, wurde sie im Schatten eines großen Akazienbaumes von zwei Negern angesprochen. Die Männer waren allem Anschein nach betrunken. Lallend boten sie ihre Dienste an.
Lena konnte sie kaum verstehen, weil ihr Englisch alles andere als perfekt war. Sie unterdrückte die Übelkeit, die in ihr hochstieg, als einer der beiden näher herantrat. Der Gestank nach Urin und Schweiß, der von ihm ausging, war noch weitaus widerwärtiger als der Geruch des Hafenmeisters. Diesmal half sogar der Einsatz ihres parfümierten Tüchleins nichts, das sie schützend vor Mund und Nase hielt.
Plötzlich sauste abermals eine Peitsche an ihr vorbei. Sofort wichen die Schwarzen zurück. Ihr aufgeschreckter Blick ging zu einem älteren, weißen Kerl, der ebenfalls einen Hut trug, wie sie aus dem Augenwinkel erkennen konnte. Er näherte sich den beiden Männern mit erhobener Peitsche und spuckte einem von ihnen einen Kautabakpfriem ins Gesicht. In Panik rannten beide davon.
«Seht, dass ihr abhaut, verdammtes Gesindel!», brüllte er ihnen hinterher, wobei er denselben seltsamen Dialekt benutzte wie die Flüchtenden. «Oder ich binde euch an den nächsten Baum und versohle euch vor den Augen der Lady den nackten Hintern!»
Lena wandte sich irritiert in seine Richtung, um gegen sein unverfrorenes Vorgehen zu protestieren. Doch als sie seine feiste, grauhaarige Gestalt erblickte, die der eines alt gewordenen
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