Flamme von Jamaika
vergeblich aufzurichten versuchte.
«Unsere urafrikanischen Brüder haben offenbar mehr auf die friedliche Variante von Sharpe gesetzt. Als der Widerstand ihrer weißen Herren größer wurde, haben sie sich nicht mehr getraut, aufs Ganze zugehen.» Er schluckte schwer, bevor er den Blick hob. «Das Spiel ist verloren, Bruder.» In den blutunterlaufenen Augen war seine ganze Hoffnungslosigkeit zu lesen. «Ich schätze, sobald wieder Ruhe im Land herrscht, werden die weißen Pflanzer zusammen mit dem Militär die Jagdsaison eröffnen, um nach den Schuldigen zu suchen. Unsere Frauen und Kinder in den Bergen sind in höchster Gefahr.»
«Du hast deinen Peinigern nicht verraten, wo sie zu finden sind, oder?»
Es war im Grunde eine überflüssige Frage. Jess wusste, dass kein einziger seiner Gefährten das Lager in den Bergen verraten hatte.
«Eher würde ich mich bei lebendigem Leib rösten lassen, als unsere Familien ans Messer zu liefern», knurrte Nathan leise.
«In die Verlegenheit könntest du durchaus noch geraten», orakelte Jess mit finsterer Miene. «Du weißt schließlich nicht, was uns noch bevorsteht.»
Jess wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als die Kerkerwächter die Gefangenen holten und barfuß durch die brütende Hitze auf den Marktplatz trieben. Zuvor hatten sie sich alle bis auf ihre dünnen Gefängnishosen ausziehen müssen. Delinquenten, die nackt waren, hatte man aus Anstand ein Tuch um die Hüften gebunden. Jess versuchte nach der langen Dunkelheit im Kerker, seine Augen mit den Händen vor dem Sonnenlicht zu schützen. Verunsichert sah er sich um.
Auf dem Marktplatz brodelte die Stimmung bereits. Neben der blutgierigen Meute aus rachsüchtigen Weißen, die das angekündigte Schauspiel verfolgen wollten, hatte die Regierung allem Anschein nach auch sämtliche Sklaven der Umgebung dazu gezwungen, die Hinrichtung ihrer abtrünnigen Brüder mit anzusehen. Das stabile, hölzerne Podest zeugte davon, dass die Schergen des Gouverneurs die Macht der Justiz im großen Stile vorführen wollten. Mehrere senkrecht stehende Balken, abgestützt mit starken Pfeilern, trugen einen langen Querbalken, an dem man mindestens zwanzig Verurteilte gleichzeitig aufknüpfen konnte.
Als sie knapp vor dem Podest angelangt waren, zählte Jess neben sich und Nathan zwölf weitere Häftlinge, allesamt Schwarze, die ebenfalls den Tod durch den Strang erleiden mussten. Während ein Gerichtssprecher die Anklage verlas, kam zutage, dass die meisten von ihnen während der örtlichen Ausschreitungen den Militärs in die Hände gefallen waren. Einzeln wurden sie anschließend auf das Podest geführt und direkt unter dem Balken positioniert, wo bereits der passende Strick auf sie wartete. Unter jedem Strick war eine Falltür eingebaut, deren Riegel einzeln betätigt werden konnten, wie der Gerichtsdiener dem geifernden Publikum stolz erklärte.
Natürlich wollte man nicht alle auf einmal hängen, sondern die Gefangenen der Reihe nach vorführen, damit das Spektakel eine größere Wirkung entfaltete. Um die Grausamkeit noch zu steigern, verzichtete der Henker darauf, den Delinquenten Säcke über den Kopf zu ziehen.
Jess und Nathan hatten das zweifelhafte Vergnügen, zuletzt dranzukommen, weil Nathan kaum laufen konnte und Jess ihn stützen musste. Jess schluckte verkrampft, als man ihm die Schlinge um den Hals legte. Mit eisernem Willen unterdrückte er jegliche Angst und die Trauer um seinen Freund, dessen Tod er gnädigerweise nicht mit ansehen musste.
«Vielleicht sollten wir langsam zu beten beginnen», raunte Jess Nathan zu, was im Grunde genommen keinen Sinn ergab, da dieser kein Christ war und nicht einmal fähig gewesen wäre, seine geschundenen Hände zu falten. Aber womit hätte er ihn sonst ablenken sollen?
Als sich die erste Bodenklappe öffnete und der Mann, der darauf gestanden hatte, in die tödliche Tiefe sauste, ging ein Raunen durch die Menge. Hier und da brandete Beifall auf. Mit jedem Gehängten stieg bei Jess die Gleichgültigkeit. Es war ihm, als ob er sich bereits vorher von seinem Körper löste. Ihm wurde leicht ums Herz, und mit einem Mal fühlte er sich befreit, obwohl ihm das Blut wie ein Sturzbach durch die Adern pumpte.
Wie aus der Ferne nahm er wahr, dass irgendjemand sich die Mühe machte und seine Verfehlungen der johlenden Menge vorlas. Als die Anklage geendet hatte, schloss Jess in Erwartung seines baldigen Todes die Augen. Sein letzter Gedanke galt Lena und dem Kind, von dem er
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