Flamme von Jamaika
nun nicht mehr erfahren würde, ob er tatsächlich der Vater war.
Doch plötzlich entstand ein Tumult, und einige Befehle donnerten über die Köpfe der wartenden Menge hinweg. Die Hinrichtungszeremonie geriet ins Stocken. Jess wagte kaum die Lider zu öffnen, aus Angst, in diesem Moment zu fallen. Doch was er dann sah, war noch schwerer vorstellbar als der Tod.
«Lena?», flüsterte er benommen, als er die schmale Gestalt im hellblauen Kleid erkannte, die sich im energischen Laufschritt und gefolgt von mehreren honorigen Weißen unter Einsatz ihrer Ellbogen den Weg zum Gerichtsdiener bahnte.
Sie hatte ihren Hut verloren, und ihr hellblondes Haar flatterte wie eine Fahne im heißen Küstenwind. Angesichts dieses abwegigen Anblicks fragte sich Jess, ob er bereits im Jenseits gelandet war oder ob er vor lauter Furcht Halluzinationen hatte.
Lena redete unterdessen unaufhörlich auf den zuständigen Regierungsvertreter ein, der für den Fortgang der Hinrichtungen verantwortlich war. Jess verstand kein Wort und sah nur, wie sie und ihre Begleiter unzählige Papiere zückten. Nach einer Weile, die Jess wie eine Ewigkeit empfand, kam Lena auf ihn zugelaufen. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Sanft fuhr sie ihm über den Hals und überzeugte sich davon, dass der Henker die Schlinge entfernte.
«Lena!?», flüsterte Jess atemlos.
Doch seine Verwirrung war nicht von Dauer. Geistesgegenwärtig lenkte er ihre Aufmerksamkeit mit einem Nicken auf Nathan, der die Unterbrechung der Urteilsvollstreckung ebenso fassungslos verfolgt hatte.
«Er ist mein Bruder, wenn es in deiner Macht steht, versuch auch ihm zu helfen!»
Ohne zu zögern, rannte Lena zurück zu ihrem Begleiter. Nach einer kurzen Verhandlung, in der offenbar eine Menge Geld den Besitzer wechselte, wurde auch Nathan der Strick entfernt. Unter den Zuschauern war zunehmend Protest zu vernehmen. Es war anzunehmen, dass die Situation in eine Art Lynchjustiz eskalierte, wenn sie sich nicht rasch genug davonmachten.
Jess wurden die Knie weich, und er hatte Mühe, nicht zu straucheln, als man ihn zusammen mit Nathan vom Podest führte. So richtig konnte er nicht glauben, was soeben geschehen war. Selbst als man ihnen mit Hammer und Meißel die Ketten abschlug, fühlte er sich wie in Trance.
«Ich denke, wir sollten uns so rasch wie möglich in die Kutsche setzen und davonfahren», riet Lena mit einem Rundumblick auf den unzufriedenen Mob. «Bevor jemand auf die Idee kommt, eure Freilassung anzuzweifeln.»
Erst als Lena ihm in einer schattigen Straße abseits des Marktplatzes überglücklich um den Hals fiel, begriff Jess, dass er nicht träumte. Sie erdrückte ihn beinahe und heulte an seiner Halsbeuge wie ein kleines Kind. Und auch Jess konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Er und Nathan waren gerettet, und sie lebte!
«Wie …? Warum …?», stammelte er und wischte sich hastig den Rotz von der Nase.
Zunächst einmal halfen sie Nathan in die Kutsche, damit er sich von den Schmerzen erholen konnte, welche die Folter zweifellos bei ihm hinterlassen hatte. Danach folgten die übrigen Fahrgäste. Während der Kutscher den vierspännigen Wagen zur Stadt hinaustrieb, beäugten sich die ungleichen Insassen immer noch fassungslos.
«Das ist Dr. Blydge», stellte Lena den älteren, beleibten Mann an ihrer rechten Seite vor. «Er ist einer der besten Anwälte Londons.»
Jess nickte dem Mann dankend zu. Blydge mochte ein Profi sein, was das Heraushauen von Gefangenen betraf, aber die Hektik, mit der ihre Befreiung vonstattengegangen war, hatte rote Flecken auf seinem Doppelkinn hinterlassen.
An Lenas linker Seite saß ein weiterer Weißer im vornehmen Anzug, dessen manikürte Hand Lena seltsam vertraulich ergriffen hatte. Nur sein grau meliertes Haar ließ auf sein wahres Alter schließen, darüber hinaus wirkte er ziemlich agil. Seine markanten Geschichtszüge strahlten eine gewisse Eleganz und Welterfahrenheit aus, die Jess nervös werden ließ.
«Und das ist mein Vater, der Konsul», erklärte Lena vergleichsweise nüchtern. Eine Mitteilung, die Jess völlig überrumpelte. Niemals hätte er geglaubt, dass sich ein angesehener Mann wie der Konsul für die Freilassung von Rebellen einsetzte. Jess wurde mit einem Mal klar, welch furchterregenden Anblick er und Nathan boten. Wahrscheinlich verbreiteten sie den Geruch eines Stinktiers! Der Konsul musste seine Tochter wirklich sehr lieben, dass er sich nicht anmerken ließ, wie abwegig er ein solches
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