Flamme von Jamaika
konnte. Ähnlich wie die vielen Frauen und Kinder in den Bergen war sie schutzlos den Bluthunden der Regierung ausgeliefert. Seine Mutter und die übrigen Lagerbewohner würden hoffentlich so schlau sein, sich zu verstecken. Aber Lena hatte niemanden, bei dem sie Zuflucht suchen konnte – zumal Bolton auch gegen sie ermittelte.
«Herr im Himmel, mach, dass sie zur Vernunft kommt», betete Jess, als sie ihn in Montego Bay angekommen in ein finsteres Loch steckten.
Die Angst, Lena könnte sich in ihrer Verzweiflung etwas angetan haben, hielt ihn zusätzlich im Würgegriff, während er angekettet an einer trostlosen Mauer auf seine Hinrichtung wartete. Zitternd saß er in seiner abgerissenen Sträflingskleidung da und wusste, dass er alles falsch gemacht hatte, was man nur falsch machen konnte. Anstatt sich für einen Möchtegerndiktator wie Cato zu engagieren, hätte er mit seiner Mutter und vielleicht noch Selina und ihren Töchtern nach Haiti fliehen sollen. Von Lena, deren Leben er in nur einem Atemzug zerstört hatte, ganz zu schweigen. Nun würde er diese Schuld mit in die Hölle nehmen, wenn man ihm in wenigen Stunden auf brutale Weise das Leben nahm.
Aber wenn Jess geglaubt hatte, dass dies die letzte Prüfung gewesen war, die Gott ihm auferlegte, so hatte er sich gründlich getäuscht. Während er in seiner Zelle auf das Ende der Nacht wartete, um sich bei seiner Hinrichtung dem wütenden Mob von weißen Pflanzern zu stellen, traf eine neue Gruppe von schwarzhäutigen Gefangenen ein. Von Fackeln begleitet, wurden die abgerissen aussehenden Männer in sein Verlies gebracht.
Im Licht des anbrechenden Morgens konnte Jess seine schweigenden Leidensgenossen näher in Augenschein nehmen und erkannte Nathan unter den Neuzugängen. Wie die anderen auch war er offenbar schwer gefoltert worden. Jess biss sich auf die Lippen, um nicht laut aufzuheulen, als sich ihre niedergeschlagenen Blicke trafen.
«Du … hier?», stammelte Nathan, wobei seine Stimme nur mehr ein leises Krächzen war.
Aus dem ehemals muskulösen Großmaul war ein wimmernder Wurm geworden, der sich schützend die seltsam verkrümmten Hände vor den nachtschwarzen Körper hielt. Man hatte ihm sämtliche Finger gebrochen, und die aufgeplatzten Hautstreifen auf Rücken und Brust sahen schlimm aus.
«Wo warst du, als wir dich … gebraucht hätten?», fragte Nathan kaum hörbar.
Jess atmete tief durch. Er wusste, er hätte seine Kameraden – nachdem er Lena zur Flucht verholfen hatte – bei der Offensive gegen die Weißen unterstützen sollen. Das war zumindest sein ursprünglicher Plan gewesen. Doch nach Lenas Befreiung war alles anders gekommen. Jetzt fühlte es sich wie ein weiterer Verrat an.
«Ich habe mit allen Mitteln versucht, das Mädchen in Sicherheit zu bringen», gestand Jess heiser. «Sie befindet sich nach wie vor in großer Gefahr. Sie ist zwar in Freiheit, aber irgendjemand will ihr zwei Morde anhängen.»
«Dann hat sich deine Mühe also überhaupt nicht gelohnt?», fragte Nathan schwach.
«Nein, sonst wäre ich wohl kaum hier», erklärte Jess mit belegter Stimme. «In Port Maria haben sie uns geschnappt und mich als Landesverräter und als ihren Entführer zum Tode verurteilt, obwohl ich keinerlei Geständnis abgelegt habe.»
Nathan warf ihm einen seitlichen Blick zu, der seine ganze Mutlosigkeit enthüllte. «Wie kann es sein, dass ausgerechnet
du
in die Hände des Militärs gefallen bist?»
«Es war meine eigene Dummheit», bekannte Jess. «Das kommt davon, wenn man seinen Feind unterschätzt. Und wie war es möglich, dass man euch erwischt hat?»
«Ich schätze, wir hatten das gleiche Unglück», erklärte Nathan mit gequälter Miene. «Unser geschätztes Oberhaupt und seine Berater von den örtlichen Maroon haben sich völlig verkalkuliert. Niemand hat damit gerechnet, dass die Regierung ganze Regimenter aus Europa einschiffen lässt … Wo es doch immer hieß, die Regierung in London stünde kurz davor, die Sklaverei endgültig abzuschaffen.»
Während Nathan redete, stöhnte er leise vor Schmerzen.
«Das Vorgehen der zivilen Polizei-Milzen war so brutal, dass wir kaum etwas gegen sie ausrichten konnten. Wie Besessene sind sie gegen alle schwarzen Brüder und Schwestern vorgegangen, die auch nur den Anschein erweckten, sich auflehnen zu wollen. Am Ende haben sie sich vor allem auf die Mischlinge konzentriert, weil sie ahnten, dass von ihnen der größte Widerstand ausging.»
Nathans Ketten klirrten, als er sich
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