Flamme von Jamaika
bestimmt nicht so, auch wenn er sich heute zugegebenermaßen etwas merkwürdig verhalten hat. Du musst wissen, er ist quasi ohne Mutter aufgewachsen. Mit Lady Anns Nachfolgerin hat er sich nicht besonders gut verstanden. Er war schon immer ein Einzelgänger und hatte kaum Freunde. Zugegebenermaßen war es auch schwierig für ihn, welche zu finden, weil ihm hier auf dem Land nur selten jemand von seinem Stand und in seinem Alter begegnete. Er war nie in einem Internat in England, wo man ihm hätte beibringen können, wie man mit Menschen umgeht. Sein Vater wollte, dass er auf der Plantage aufwächst, und hat ihn wie ein Mädchen ausschließlich von Hauslehrern unterrichten lassen. Schon früh musste er daher auch Verantwortung als junger Herr von Redfield Hall übernehmen. Und die Arbeit mit den Sklaven ist nicht immer angenehm. Manchmal muss man hart durchgreifen. So etwas prägt. Aber darüber können wir gern sprechen, wenn du mich besuchen kommst.»
«Vielen Dank für die Einladung», erwiderte Lena.
«Ich denke, du solltest noch mal mit ihm sprechen», empfahl die Lady. «Er ist über die Terrasse nach draußen gegangen, soweit ich weiß», fügte sie hinzu. «Vielleicht ist er im Park, um frische Luft zu schnappen. Es war ein anstrengender Tag», resümierte sie mit einem Seufzer. «Für uns alle.» Dann wandte sie sich wieder ihrem Teller zu und verschwand mit einem «Gute Nacht, meine Liebe» in Richtung Wintergarten.
Für einen Moment war Lena unschlüssig, ob sie nicht besser sofort wieder nach oben gehen sollte. Doch dann entschied sie sich, Edward zu folgen. Sie wollte ihm sagen, wie sehr er sie gekränkt hatte, und hoffte darauf, dass er endlich einsichtig war. Als sie den menschenleeren Saal hinter sich gelassen hatte, an dessen Terrassenausgang zwei bewaffnete Soldaten standen, die der Gouverneur offenbar als Wachposten abgestellt hatte, sah sie unten im unbeleuchteten Park eine schemenhafte Gestalt, die zum Flussufer marschierte. Edward! Trotz Bedenken wegen der hereinbrechenden Nacht beschloss sie, ihm zu folgen.
Sie beschleunigte ihre Schritte, aber es gelang ihr nicht, ihn einzuholen. Rufen wollte sie nicht, und ab einer gewissen Entfernung fragte sie sich ohnehin, wo er eigentlich so zielstrebig hinmarschierte.
Nachdem sie bereits eine Vielzahl an Büschen und Bäumen hinter sich gelassen hatte, wurde ihr ein wenig mulmig zumute, weil sie sich ohne Begleitung so weit vom Haus entfernt hatte. Doch die Neugier siegte über die Angst. Was hatte Edward um diese Zeit hier unten am Fluss zu suchen? Falls er alleine im Mondlicht spazieren gehen wollte, um nachzudenken, wäre es eine hervorragende Gelegenheit, zu ihm aufzuschließen und ihn mit ihrer Anwesenheit zu überraschen.
Aber dann beobachtete sie, wie er auf eine kleine Hütte zustrebte. Die Hütten standen am Rande eines Palmenhains und waren von üppig blühenden Büschen umgeben, hinter denen Lena nun unbemerkt Schutz suchte. Vor den anderen Sklavenbehausungen in unmittelbarer Nachbarschaft brannten noch Feuer, und ein paar Neger saßen im Kreis und unterhielten sich. Als sie Edward sahen, nahmen sie merkwürdigerweise kaum Notiz von ihm. Ein paar der Männer nickten ihm zu und brachen, nachdem er außer Hörweite war, in schmutziges Gelächter aus.
Aus den offenen, quadratischen Fensteröffnungen der Behausungen fiel ein schwacher Lichtschein in die Umgebung. Lena fasste all ihren Mut zusammen und schlich zum rückwärtigen Fenster jener Hütte, in die Edward verschwunden war. Auf leisen Sohlen tastete sie sich vor und spähte argwöhnisch hindurch. In der Mitte des Raumes brannte ein schwaches Feuer. Rechts und links davon erkannte sie zwei halbwüchsige Kinder, die schon zur Nacht gebettet worden waren. Am Eingang gewahrte sie Edward. Eine hellhäutige Mulattin präsentierte ihm einen neugeborenen Säugling, der an ihrer Brust schlief. Sekundenlang betrachtete er das Kind, und sein Mund verzog sich zu einem undefinierbaren Lächeln. Die Frau lächelte ebenfalls und legte das Kind zu den anderen.
Hatte Lena im ersten Moment vermutet, dass Edward auf die groteske Idee gekommen war, aus Fürsorge die Sklavenunterkünfte zu besuchen, so wunderte sie sich nun, dass die Frau ihn wie selbstverständlich zu einer primitiven Bettstatt hinzog. Ohne Worte entledigte sie sich ihres Kittels und stand schließlich vollkommen nackt vor ihm. Er würdigte ihren üppigen Körper nicht nur mit Blicken, sondern auch mit den Händen. Die Frau stöhnte
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