Flammen des Himmels
vor.
11.
D ie anderen Familienmitglieder erfuhren erst kurz vor dem Abendessen, dass die Pläne für den kommenden Tag geändert worden waren. Hinrichs holte seine Geldkassette heraus, nahm die meisten Münzen an sich und steckte sie in eine Geldkatze. Danach befahl er Helm, am nächsten Morgen bei Tau und Tag aufzustehen und feste Kleidung und Schuhwerk für die Reise anzuziehen.
»Pack ein Bündel mit deinen wichtigsten Dingen, aber nimm keine religiösen Schriften mit, die uns verraten könnten«, setzte er mahnend hinzu. »Die wird Mutter heute Abend noch verbrennen.«
»Also müssen wir fliehen«, schloss Inken Hinrichs aus seinen Worten.
Ihr Mann schüttelte den Kopf. »Das ist keine Flucht! Ich gehe mit Helm zusammen auf Reisen, um gutes Leder zu kaufen.«
Doch alle begriffen, dass dies eine Lüge war. Haug, der zurückbleiben sollte, rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum.
»Ich finde, wir sollten gemeinsam gehen. Mir gefällt dieser Inquisitor nicht. Er sitzt im Dominikanerkloster wie eine dicke, fette Spinne, die auf Beute lauert. Wenn Vater mit Helm zusammen die Stadt verlässt, wird er misstrauisch werden und sich an uns schadlos halten.«
Hinrichs tat diesen Einwand mit einer wegwerfenden Geste ab. »Das Gegenteil wird der Fall sein! Da du und die drei Weibspersonen zurückbleiben, wird Gerwardsborn annehmen, dass wir keine Ketzer sind. An diese Sache muss man mit Verstand herangehen, mein Sohn. Wenn wir alle gemeinsam aufbrechen, erregen wir seine Aufmerksamkeit. So aber wirst du uns in drei Tagen folgen.«
»Aber was ist mit Mutter und den Schwestern?«, fragte Haug. Ihm passte der Plan ganz und gar nicht, der dem Vater und seinem jüngeren Bruder die besten Chancen einräumte, mit heiler Haut davonzukommen, während er und die drei anderen Familienmitglieder Gefahr liefen, dem Inquisitor in die Hände zu geraten.
»Denen wird schon nichts passieren«, erklärte Hinrichs verärgert, weil sein ältester Sohn mit einem Mal ebenso wie Frauke seine Handlungen zu hinterfragen begann.
»Es sind auch schon Frauen auf den Scheiterhaufen gestorben«, wandte Haug ein.
»Die drei sollen vorgeben, gute Katholikinnen zu sein. Unser Herr im Himmel wird ihnen diese Lüge vergeben. Denkt daran, in wenigen Jahren werden all unsere Bedränger in der Hölle schmachten, während wir im himmlischen Jerusalem leben und für alle Zeiten die Herrlichkeit Gottes und seines Sohnes Jesus Christus schauen dürfen.«
Bei dem Gedanken glitzerten Hinrichs’ Augen voller Vorfreude. Wenn Jesus Christus wiederkehrte, würde er kein schlichter Gürtelschneider mehr sein, der einen Thaddäus Sterken um Aufträge anbetteln musste, sondern oben im Himmel ein Fürst, während Sterken, der Inquisitor und alle anderen Menschen, die sich der endgültigen Wahrheit verschlossen, die übelste Höllenpein erleiden mussten.
Bis auf Helm hatten alle Angst, der Plan könne misslingen. Haug wagte es jedoch nicht, den Vater weiter offen zu kritisieren. Auch die Mutter rang nur die Hände, während Silke in den Augen ihrer Schwester so aussah wie ein Schaf, das darauf wartete, geschlachtet zu werden.
In Frauke selbst brannte die Wut über die Selbstsucht des Vaters. Da sie nichts an der Situation ändern konnte, beschloss sie, zu warten, bis der Vater und Helm Stillenbeck verlassen hatten, um dann ihren älteren Bruder zu überreden, noch am selben Tag mit der Mutter, Silke und ihr wegzugehen.
Beim Essen hingen alle ihren Gedanken nach, doch niemand sagte etwas. Frauke hatte Mühe, ihr Essen hinunterzubringen, und sie bemerkte, dass es ihrer Schwester ebenso erging. Auch Haug haderte mit dem Schicksal, zurückbleiben zu müssen. Vor allem erschreckte ihn die Verantwortung, die der Vater ihm auf die Schultern geladen hatte, und er nahm sich vor, keine drei Tage zu warten, sondern spätestens am nächsten Tag nicht lange nach Vater und Bruder aufzubrechen, und zwar zusammen mit der Mutter. Dann aber sagte er sich, dass es auffallen würde, wenn die Hausfrau ihr Heim verließ und die beiden Töchter zurückließ, und beschloss, stattdessen Silke mitzunehmen. Die Mutter und seine jüngere Schwester konnten mit Gottes Segen irgendwann nachkommen. Doch von diesen Überlegungen durfte sein Vater nichts erfahren. Auch der Mutter und den Schwestern würde er es erst kurz vor seinem Aufbruch sagen.
Da Frauke gewohnt war, in den Mienen ihrer Familienmitglieder zu lesen, nahm sie wahr, dass ihr ältester Bruder etwas ausbrütete, und hoffte, er
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