Flammen des Himmels
war ihr klar: Wenn sie noch länger an diesem Ort blieben, würde es ihr Verhängnis sein. Obwohl ihr seine Schläge noch schmerzhaft in Erinnerung waren, sprach sie ihren Vater erneut darauf an.
Diesmal hielt Hinner Hinrichs seine Hand im Zaum. Mittlerweile waren auch ihm erste Zweifel gekommen, auch wenn sie noch nicht behelligt worden waren. Von einem Glaubensbruder hatte er erfahren, dass die dritte Familie ihrer Gemeinschaft bereits kurz vor Erscheinen des Inquisitors ihr Haus verkauft hatte und weggezogen war. Der Wiedertäufer, der ihm davon erzählte, hatte bereits seine Frau und seinen Sohn zu Verwandten geschickt und wollte Stillenbeck noch am selben Tag unter dem Vorwand einer Geschäftsreise verlassen. Vielleicht, so dachte Hinrichs, sollte auch er sich auf den Weg machen. Er brauchte am Tor ja nur anzugeben, dass er gutes Leder für seine Gürtel besorgen musste. Am besten war es, wenn er die beiden Söhne mitnahm. Den Weibern würde während seiner Abwesenheit schon nichts geschehen, solange sie eifrige Katholikinnen mimten.
Dann aber sagte er sich, dass es auffallen könnte, wenn er die Stadt in Begleitung seiner beiden Söhne verließ, und überlegte, welchen von beiden er zurücklassen konnte. Er entschied sich für den Älteren. Zum einen war Haug in seinem Gewerbe fast so gut wie ein Meister, und zum anderen war er der Ruhigere und Vorsichtigere seiner Söhne. Helm platzte noch zu leicht mit etwas heraus, das bei anderen Menschen Verdacht erregen konnte.
Hinrichs wollte nicht einmal ausschließen, dass die Gerüchte, die Gerlind Sterken verbreitete, durch irgendeine Bemerkung seines Jüngsten provoziert worden waren. Unter den Umständen wäre es wirklich besser, Helm mitzunehmen, dachte er und nickte Frauke mit einem angespannten Lächeln zu.
»Mir erscheint es inzwischen auch als vernünftig, Stillenbeck für einige Zeit den Rücken zu kehren. Nur dürfen wir das nicht alle auf einmal tun. Es würde den Torwachen auffallen, und man würde uns zurückhalten.«
»Wir können Stillenbeck doch durch verschiedene Tore verlassen und uns einen oder zwei Tage später an einem vorher bestimmten Ort treffen«, schlug Frauke vor.
Der Rat dünkte Hinrichs gut, und er wollte bereits darauf eingehen. Dann aber schüttelte er den Kopf. »Das geht nicht! Wenn am Abend die Wachbücher verglichen werden, würde man uns am nächsten Morgen Reiter hinterherschicken und uns gefangen nehmen. Daher müssen mehrere Tage zwischen jeder Abreise liegen. Ich werde morgen mit Helm zusammen aufbrechen. Haug soll die Stadt drei Tage später verlassen. Einen oder zwei Tage später könnt ihr Weibsleute uns folgen. Euch passiert schon nichts, solange ihr vorgebt, gute Katholikinnen zu sein.«
Frauke musterte ihren Vater durchdringend. Hatte sie soeben einen Anflug von Feigheit an ihm entdeckt? Immerhin wollte er sich als Ersten in Sicherheit bringen und dazu Helm, seinen speziellen Liebling. Obwohl sie nichts dagegen hatte, eine Zeitlang von diesem Bruder befreit zu sein, gefiel ihr die Sache nicht. Wenn dann auch noch Haug Stillenbeck verließ, würden die Mutter, Silke und sie allein auf sich gestellt sein. Zudem erschien ihr die Zeit viel zu lang. Was konnte bis dahin alles geschehen!
»Geh jetzt und hilf deiner Mutter!«, befahl Hinrichs, dem der kritische Blick seiner Tochter unangenehm wurde.
Frauke schien es ihm übelzunehmen, dass er die drei Weiber zurückließ. Dabei tat er doch alles für seine Familie. Wenn die Frauen nachkamen, benötigten sie einen sicheren Zufluchtsort und ein Dach über dem Kopf. Beides würde er ihnen verschaffen.
Frauke wusste angesichts der störrischen Miene ihres Vaters, dass er keine weiteren Widerworte dulden würde. Daher ging sie in die Küche hinüber. Kaum sah ihre Mutter sie, deutete diese auf den leeren Eimer. »Du kannst Wasser holen, Frauke.«
»Ja, Frau Mutter!« Obwohl sie lieber mit ihrer Mutter und Silke über die Pläne des Vaters gesprochen hätte, packte Frauke den Eimer und verließ das Haus.
Sie musste mehrmals gehen, bis der Bottich in der Küche voll war. Dann verlangte die Mutter, sie müsse auch noch den großen Kessel füllen, weil sich die Frauen und Männer der Familie am Abend in getrennten Räumen waschen sollten.
Frauke gehorchte, ohne zu murren, obwohl ihr bereits der Rücken weh tat. Unterwegs wurde ihr klar, dass ihr jüngerer Bruder wohl kaum am nächsten Morgen getauft werden würde, es sei denn, ihr Vater nahm die Taufe unterwegs selbst
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