Flammen des Himmels
sie daran dachte, und sie schob ihre Mutter zur Tür hinaus.
Da blickte Inken Hinrichs an sich herab und schüttelte störrisch den Kopf. »So trete ich nicht auf die Straße! Ich brauche ein Kleid und eine Haube!«
»Mama, wir sind auf der Flucht! Jeden Augenblick können Gerwardsborns Schergen kommen und uns wieder gefangen nehmen. Dann aber schwebt auch Herr Lothar in höchster Gefahr«, flehte Frauke sie an.
»Ich bin eine anständige Frau, trotz allem, was dieser Schuft dort hinten mit mir gemacht hat, und ich lasse mich nicht im Hemd vor fremden Leuten sehen.« Inken Hinrichs wurde mit jedem Wort lauter, so dass Frauke ihr zuletzt den Mund zuhalten musste.
»Was sollen wir tun?«, fragte sie bang.
Lothar zündete seine Laterne an, leuchtete in den ersten der unverschlossenen Keller hinein und entdeckte in einer Ecke mehrere nachlässig hingeworfene Frauenkleider. Rasch holte er diese und reichte sie Frauke.
»Das sind unsere Sachen!«, rief diese erleichtert und begann, ihre Mutter anzuziehen.
Silke konnte dies selbst tun, und zuletzt streifte auch Frauke ihr Kleid über.
»Bist du nun zufrieden, Mama?«
»Wie kann ich zufrieden sein, nach allem, was geschehen ist? Ich finde nur Trost bei dem Gedanken, dass unser Herr im Himmel mich nach den Qualen, die ich erleiden musste, ungesäumt in den Himmel aufnehmen wird, so wie er es bei Haug getan hat.«
Frauke traten bei dem Gedanken an den toten Bruder die Tränen in die Augen. Doch in dieser Stunde gingen die Lebenden vor, und so führte sie gemeinsam mit Lothar ihre Mutter und ihre Schwester zu der kleinen Pforte. Dort lauschte der junge Mann und öffnete, als nichts zu hören war, die Tür. Wenige Herzschläge später standen sie draußen auf der Straße, und Lothar schloss sorgfältig von außen ab, um niemanden zu früh auf ihre Flucht aufmerksam zu machen.
»Weißt du, wo Draas wohnt?«, fragte er Frauke, da er sich nicht zutraute, das Haus in der Dunkelheit zu finden.
Das Mädchen nickte und übernahm die Führung. Die kleine Gruppe eilte so rasch, wie es Inken Hinrichs’ Zustand erlaubte, durch die Gassen. Zu ihrer Erleichterung begegnete ihnen kein Mensch, und es öffnete auch niemand die Fensterläden, um herauszuschauen, wer so spät noch unterwegs war. Daher erreichten sie unbemerkt das kleine Haus, in dem Draas wohnte.
Lothar klopfte an die Tür.
»Wer ist da?« Die Frage kam so schnell, dass der Stadtknecht nicht geschlafen haben konnte.
»Ich bin’s, Lothar!«, antwortete dieser so leise, dass Draas nachfragen musste.
»Wer?«
»Ich!«, antwortete Lothar, wagte aber aus Angst vor nächtlichen Lauschern nicht, seinen Namen noch einmal zu nennen.
Glücklicherweise erkannte Draas seine Stimme und öffnete. Als er Inken Hinrichs und ihre Töchter vor sich sah, blieb ihm vor Staunen der Mund offen stehen. Er fasste sich aber rasch wieder und trat beiseite. »Kommt rein!«
Dies ließen Frauke und Lothar sich nicht zwei Mal sagen. Sie zogen die Mutter in das kleine Haus, und Silke folgte ihnen auf dem Fuß.
»Wie habt Ihr das geschafft?«, fragte Draas überwältigt.
»Es war nicht besonders schwer. Ich musste nur den Foltermeister niederschlagen, der bei den Frauen Wache hielt.«
Draas schnaufte überrascht. »Nur? Junger Herr, an Euch ist mehr dran, als Ihr selbst zu glauben scheint. Aber wir sollten uns beeilen. Die Frauen müssen zur Stadt hinaus, und sie brauchen jemanden, der sie an einen Ort bringt, an dem sie sicher sind.«
»Dazu bin ich bereit«, erklärte Lothar.
»Nun mal langsam mit den jungen Pferden! Ihr habt das Eure getan. Außerdem würde Euer Vater in Verdacht geraten, die Befreiung befohlen zu haben, wenn Ihr auf einmal verschwunden wäret. Ich hingegen werde nicht vor übermorgen vermisst. Das, was hier geschehen ist, hat mir den Aufenthalt in dieser Stadt verleidet, und wenn ich den Ort verlasse, verliere ich nicht viel.«
»Aber wie wollen wir aus der Stadt kommen? Die Tore werden doch auch in der Nacht bewacht«, wandte Frauke ein.
»Da fällt mir schon was ein!« Draas begann zu grinsen. »Heute Nacht ist Jost für das Osttor eingeteilt. Der legt sich gerne hin und schläft, bis einer laut genug ans Tor pocht.«
»Aber der Schlüssel!«
»Da das Schloss dort repariert werden müsste und der Rat sich immer noch mit dem Schlossmacher streitet, ist die Nachtpforte nur mit einem Riegel gesichert«, erklärte Draas lächelnd, während er den Frauen sein Wasserschaff zeigte, an dem sie ihren Durst stillen
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