Flammen des Himmels
Fremder sie beobachtet und es unter der Hand weitergetragen? Doch auch das vermochte Frauke sich nur schwer vorzustellen. Ihre Gruppe hielt die erforderlichen Zeremonien nie in Gegenwart anderer und stets in einem versteckten Raum ab.
Während Frauke sich den Kopf zermarterte, betete sie wie die anderen, kniete mit diesen zusammen nieder oder stand auf und ging zuletzt hinter ihrer Mutter und Schwester zum heiligen Abendmahl. Die Oblate, die ihr der Priester in den Mund steckte, schmeckte wie Sägespäne, und sie musste an sich halten, sie nicht auszuspucken.
Da sah sie den hübschen Jüngling neben sich, der ihr beim Einzug des Inquisitors aufgefallen war. Auch er verzog das Gesicht und hatte sichtlich Mühe, die Scheibe hinunterzuschlucken. Für einen Augenblick trafen sich beider Blicke, und er lächelte sie an.
Die Geste hatte etwas Verschwörerisches, zumal Frauke begriff, dass ihm die Oblate ebenfalls nicht geschmeckt hatte. Diesen Gedanken spann sie weiter. Hatte der Inquisitor befohlen, das Symbol des letzten Abendmahls durch einen Zusatz zu verderben, um jene, die es nicht hinunterbrachten, der Ketzerei bezichtigen zu können? Als sie kurz zu dem Gestühl sah, in dem Jacobus von Gerwardsborn saß, schien ihr das durchaus möglich. Der Mann stellte eine Gefahr für alle dar, die sich nicht offen zur römischen Lehre bekannten, so falsch diese auch sein mochte.
Auf dem Nachhauseweg betete Frauke, dass der Inquisitor Stillenbeck bald verlassen möge, damit wieder Ruhe einkehren konnte. Dann aber wanderten ihre Gedanken zu dem jungen Mann mit dem freundlichen Lächeln. Auch wenn dieser zum Gefolge des schrecklichen Mannes gehörte, so hielt sie ihn doch nicht für einen Feind.
Helm, der ein Jahr jünger war als sie und trotzdem bald zur Taufe zugelassen werden würde, zwickte seine wie entrückt wirkende Schwester in den Arm. »Dem Pfaffen haben wir es aber wieder einmal gezeigt. Der hält uns gewiss für aufrechte Katholiken.«
»Sei still! Wenn dich jemand hört, geraten wir alle in Gefahr«, wies ihn der Vater zurecht.
Obwohl Hinner Hinrichs ebenfalls der Meinung war, den Inquisitor und die Priester getäuscht zu haben, plagte ihn ein schlechtes Gewissen. Ein wahrer Christ musste offen zu seinem Glauben stehen. Er aber tat so, als wäre er so katholisch wie Jacobus von Gerwardsborn selbst. Dann dachte er an die Bibelstelle, die er gestern im Kreis der Familie gelesen hatte. In Lukas 22, Vers 54–62 war von der Verleugnung Christi durch Petrus die Rede. Im Gegensatz zu diesem verleugnete er nicht den Erlöser, sondern hielt nur seine Zugehörigkeit zur Gemeinschaft der Täufer geheim. Dies war gewiss eine lässlichere Sünde als die, die Simon Petrus am Ölberg in Jerusalem begangen hatte.
4.
O bwohl es bislang keine Anklagen wegen Ketzerei gab und auch niemand verhaftet worden war, sank die Stimmung in der Stadt von Tag zu Tag. Den Lutheranern, meist Angehörige der selbstbewussten Gilden, widerstrebte es, sich verstellen zu müssen, und die Katholiken fragten sich, ob ihre neue Herrschaft von Dauer sein würde.
Jacobus von Gerwardsborn wusste, dass die Zeit seine mächtigste Waffe war. Früher oder später würde einer der Ketzer aufbegehren und sich verraten, so dass er für die anderen als warnendes Beispiel dienen konnte. Der Rest würde sich entweder wieder dem wahren Glauben zuwenden oder wenigstens so tun, als wäre er ein braver Katholik.
Wenn er auf seinem Ehrenplatz in der Kirche saß, beobachtete er die Menschen und versuchte, aus ihren Mienen herauszulesen, wer nun aus gläubiger Inbrunst gekommen war und wer nur gezwungenermaßen. Dabei fiel sein Blick immer wieder auf jenes junge Mädchen, das Gerlind Sterken als Wiedertäuferin bezichtigt hatte. Mittlerweile hatte er die Tochter des zweiten Bürgermeisters genauer befragt und war sicher, dass sie und ihr Vater von der lutherischen Ketzerei befallen waren. Dennoch glaubte er, beider Willen in seinem Sinne beugen zu können. Dafür aber mussten Sterken und seine Tochter vor einem Scheiterhaufen stehen und das brennende Fleisch riechen, während in ihren Ohren die Schreie der Gemarterten gellten.
Im Gegensatz zu dem, was man ihm nachsagte, wusste der Inquisitor sehr wohl, dass er nicht jeden auf den Scheiterhaufen bringen durfte, der in seinem Leben eine lutherische Predigt gehört hatte. Vor allem jene galt es zu schonen, die Geld und Gut besaßen und entsprechend hohe Steuern bezahlten. Auch hatte der Adel ein Anrecht darauf, mit
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