Flammen im Sand
Sie
warten einfach ab. Ihre Schwester wird sich bei Ihnen melden und Ihnen erklären,
warum sie gegangen ist. Vermutlich schon in den nächsten Tagen.«
»Sie hätte mir eine Nachricht hinterlassen.«
»Kann es sein, dass Sie eine solche Nachricht übersehen haben? Oder
dass sie versehentlich weggeworfen wurde?«
Geraldine hatte kurz geschwiegen, als dächte sie über seine Frage
nach, dann antwortete sie: »Das glaube ich nicht. Ich will Ihnen sagen, was ich
glaube: Jannes Pedersen hat meine Schwester umgebracht. Genauso, wie er seine
Frau umgebracht hat.«
Erik hatte sein Bestes getan, die Leidenschaft in ihrer Stimme mit
einer besonders sachlichen Antwort auszugleichen. »Haben Sie einen Beweis? Oder
mindestens ein schwerwiegendes Indiz?«
Geraldine hatte trotzig gesagt: »Wie Sie meinen! Dann werde ich also
weiterhin versuchen, Yvonne auf ihrem Handy zu erreichen. Vielleicht geht sie
ja beim hundertsten Mal dran.«
»Ja, tun Sie das!« Erik hatte gemerkt, dass Geraldine das Gespräch
damit für beendet hielt, deswegen fragte er schnell: »Haben Sie sich überlegt,
wohin sie gegangen sein könnte? Vielleicht zurück nach Frankreich? Zu Verwandten
oder alten Freunden?«
»Ich habe überall angerufen. Sie hat sich nirgendwo gemeldet.
Allerdings ⦠ich kenne nicht alle ihre Freunde. Yvonne und ich waren zwar
beruflich ein gutes Team, aber privat â¦Â« Geraldine hatte gezögert, dann fuhr
sie fort: »Privat gab es viele Probleme zwischen uns. Wenn wir nicht zusammen
im Modeatelier arbeiteten, würden wir uns ein- oder zweimal im Jahr besuchen
und uns telefonisch zum Geburtstag gratulieren. Mehr nicht!«
»Sie hatten Streit?«, hatte Erik überrascht gefragt.
»Mir gefiel nicht, dass Yvonne sich so viel von Jannes gefallen
lieÃ. Ihr gefiel nicht, dass ich mein Leben so führe, wie ich es will. Also hat
sich jede von uns aus dem Leben der anderen herausgehalten. Sonst hätten wir
uns beruflich am Ende nicht mehr verstanden.« Mit groÃer Bitterkeit ergänzte
sie: »Ich war Yvonnes Angestellte. Am Ende hätte sie mir gekündigt, wenn ich
den Mund zu weit aufgemacht hätte.«
Erik hatte geschwiegen und über Geraldines Worte nachgedacht. Bevor
er eine Antwort auf die Frage gefunden hatte, warum sich zwei Schwestern, die
sich privat nicht gut verstanden, beruflich verbanden, hatte Geraldine gesagt:
»Genau genommen haben die Probleme zwischen uns auf Sylt begonnen. Als ich
merkte, was Jannes für ein Typ war! Ich habe nie verstanden, dass Yvonne sich
ausgerechnet in diesen Fiesling verliebt hat. Später begriff sie es selber
nicht mehr, aber trotzdem hat sie nie zugegeben, dass sie sich für den falschen
Mann entschieden hat. Sie wollte mir einfach nicht recht geben.«
»Dann ist es kein Wunder«, hatte er entgegnet, »dass Ihre Schwester
sich davongemacht hat, ohne Ihnen eine Erklärung für ihr Verschwinden zu
liefern.«
Diesmal war das Schweigen auf der anderen Seite der Leitung
entstanden. Und Geraldines Stimme war sehr leise, als sie antwortete: »Dafür
muss ich wohl Verständnis haben. Ich hätte ihr entweder ins Gesicht gelacht
oder ihr gesagt, dass sie nun auslöffeln soll, was sie sich eingebrockt hat.«
Der Lichterzug wurde langsamer. Die Ersten versuchten bereits,
sich einen guten Platz zu sichern, von dem aus sie die groÃe Strohpuppe im Auge
hatten, die den Winter darstellte, der im Biikefeuer sein Ende finden sollte.
Vielen ging es auch darum, in der Nähe des Bürgermeisters zu sein, um seine Ansprache
gut verstehen zu können.
Mamma Carlottas Blick blieb an Geraldines Gesicht hängen, das im
Schein ihrer Fackel gut zu erkennen war. Unbeweglich starrte die schöne
Französin in die hoch aufgeschichtete Biike. Sie schien in Gedanken versunken
zu sein. Ob sie an ihre Schwester dachte? Oder an Elske Pedersen?
Mamma Carlotta fragte sich, wie sie Erik davon erzählen sollte, was
sie entdeckt hatte. Er musste es erfahren, schlieÃlich war es ein wichtiges
Indiz. Aber wie? Sollte sie ihm etwa gestehen, dass sie etwas durchforstet
hatte, was nicht für ihre Augen bestimmt gewesen war? Was ihr nicht gehörte und
sie auch nichts anging? Nein! Erik würde ihr noch im Hochsommer Vorwürfe
machen!
Bestimmt hatte Geraldine angenommen, Mamma Carlotta bekäme nichts
davon mit, wie sie den groÃen Einbauschrank öffnete, der die gesamte
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