Flammen im Sand
AuÃenwand
der Schneiderwerkstatt bedeckte. Viele Fächer enthielt er, in denen sich
Schnittmuster, Stoffreste und Fotos von Modellen stapelten, die das Modeatelier
angefertigt hatte, und unzählige Schubladen mit Nadeln und Garnrollen in sämtlichen
Farben. Und es gab rechts oben zwei abschlieÃbare Fächer, in denen immer die
Schlüssel steckten. Dort standen Akten mit den Buchungsunterlagen, mit Anfragen
von Kunden und GroÃhändlern, mit Rechnungen und Angeboten, mit Prospekten und
Werbematerial.
Mamma Carlotta hatte sich mit groÃem Eifer der Aufgabe gewidmet, die
Geraldine ihr übertragen hatte. Carlotta wusste, dass ihr unter anderen Umständen
niemals etwas so Wichtiges und Schwieriges anvertraut worden wäre wie das
Ãrmelbündchen einer festlichen Bluse. Die pure Not war es gewesen, die
Geraldine dazu bewogen hatte, einer Hobbyschneiderin wie Mamma Carlotta diese
Arbeit zu übertragen. Die Bluse musste fertig werden, die Auftraggeberin wollte
sie in den nächsten Tagen abholen.
Als Mamma Carlotta aufgegangen war, dass Geraldine offenbar etwas
sehr Wichtiges suchte, hatte sie das Ãrmelbündchen sinken lassen und sie
beobachtet. Intuitiv erkannte sie, dass es nicht um ein Stück Stoff oder ein
Schnittmuster ging. Geraldine hatte sich eine Trittleiter geholt, um das obere
Regalbrett zu erreichen, auf dem eine Reihe Aktenordner stand. Mit einem der
Ordner in der Hand war sie wieder hinabgestiegen, hatte ihn auf einem der
Zuschneidetische aufgeschlagen und langsam und gründlich Seite für Seite
umgeblättert. Anscheinend erfolglos, denn nach einer Weile stützte sie sich mit
der flachen Hand auf eine aufgeschlagene Seite und starrte nachdenklich vor
sich hin. Dass sie aufmerksam betrachtet wurde, schien Geraldine nicht
aufzufallen. Erst als ihre Augen plötzlich hochschnellten, wurde Mamma Carlotta
klar, dass sie sich getäuscht hatte. Geraldine hatte ihren forschenden Blick
durchaus bemerkt und wollte sie auf frischer Tat ertappen.
Wenn sie Mamma Carlotta beschämen wollte, dann war es ihr gelungen.
Erschrocken hatte sie sich wieder über ihre Näharbeit gebeugt, damit Geraldine
Bertrand glauben konnte, sie habe gedankenverloren und rein zufällig in ihre
Richtung geblickt, weil sie sich Gedanken über den nächsten Stich machte. Sie
wartete auf eine unfreundliche Bemerkung, aber Geraldine sagte nichts. Wortlos
ging sie in den Laden, wo gerade die Türglocke geschrillt hatte, und später
hörte Mamma Carlotta sie telefonieren. Wenn sie sich nicht täuschte, sprach sie
mit Erik.
Diese Gelegenheit lieà Mamma Carlotta sich nicht entgehen. Flink
sprang sie auf, legte den Ãrmel, dem sie das Bündchen anfügen sollte, zur Seite
und huschte zu dem Aktenordner, der noch immer aufgeschlagen auf dem
Zuschneidetisch lag.
Carolin, die in ihre Näharbeit vertieft war, sah erst auf, als sie
leises Papierrascheln hörte. »Nonna! Was machst du da?«
Diese Frage konnte Mamma Carlotta nicht beantworten, deswegen
behauptete sie einfach: »Ich helfe deinem Vater!«
Dass sie tatsächlich etwas fand, was Erik helfen konnte, wunderte
sie nur kurz. Und dass sie sofort das Besondere an dem scheinbar unbedeutenden
Dokument erkannte, überraschte sie kein bisschen. Hatte nicht sogar der Pfarrer
ihres Dorfes sie besonders schlau genannt, als sie den Dieb der
Sonntagskollekte entlarvte, der sich als harmloser Tourist getarnt hatte? Auch
da hatte sie auf ihre Intuition gehört, denn der Mann war ihr auf Anhieb
unsympathisch gewesen.
Erik hatte ihr zwar schon oft erklärt, dass fehlende Sympathie kein
wirkliches Indiz sei, aber wenn sie auf einen einzigen Blick etwas so
Ãberzeugendes erkannte wie in diesem Fall, dann würde auch er nicht mehr an
ihrer Intuition zweifeln. Nur ein kleines Problem gab es noch: Wie sollte sie
ihm erzählen, was sie wusste, ohne gleichzeitig zu bekennen, dass sie so
neugierig gewesen war, wie Erik es ihr gelegentlich vorwarf?
Carolin sah ihre GroÃmutter ängstlich an. »Wenn Madame Bertrand das
sieht! Was suchst du überhaupt in diesem Ordner?«
»Nichts! Gar nichts!«, behauptete Mamma Carlotta und huschte an
ihren Arbeitsplatz zurück. »Ich wollte nur mal gucken, wo Signora Bertrand
früher gearbeitet hat.«
Carolin hatte nicht das geringste Verständnis für die Neugier ihrer
GroÃmutter. »Das geht dich nichts an, Nonna!«
»Ecco, Carolina! Du hast ja
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