Flammen über Arcadion
müssten wir auf eine Herberge stoßen«, sagte Jonan. »Vielleicht finden wir dort jemanden, der bereit ist, uns ein Stück mitzunehmen.«
»Ist das nicht gefährlich?«, gab Carya zu bedenken. »Könnte der Lux Dei nicht bereits unseren Steckbrief entlang der Handelsstraße verteilt haben?«
Jonan kratzte sich am Kopf. »Stimmt. Eine Herberge würde sich ziemlich gut eignen, um unsere Gesichter ans Schwarze Brett zu schlagen und jedem eine dicke Belohnung zu versprechen, der uns verrät.«
»Ich könnte die Lage auskundschaften«, erbot sich Pitlit. »Kein Problem.«
Genau so gingen sie vor, als sie etwa zwei Stunden nach ihrem erneuten Aufbruch am frühen Nachmittag einen großen Gasthof vor sich am Straßenrand auftauchen sahen. Es handelte sich um ein ummauertes Anwesen mit Wachtürmen, auf deren Dächern die Flagge des Lux Dei träge im schwachen Wind wehte.Vor dem Tor standen zwei Ochsengespanne, deren Besitzer sich offenbar gerade eine späte Mittagspause gönnten.
Carya erinnerte sich an eine Herberge dieser Art, in der sie auf ihrem Ausflug zum Meer mit der Templerjugend Rast gemacht hatten. Diese Schutzorte in der Wildnis wurden sowohl von ihren Gästen als auch dem Lux Dei selbst finanziert, um einen sicheren Handel zu ermöglichen. Man konnte dort über Nacht die Kutschen und Tiere unterstellen, in einem weichen Bett schlafen, eine warme Mahlzeit bekommen und ein heißes Bad nehmen. Der Gedanke daran ließ Carya beinahe schwach werden und jede Gefahr in den Wind schlagen.
Glücklicherweise hielt Jonan sie davon ab, loszustürmen und in den nächsten Badezuber zu springen. Denn Pitlit war kaum zehn Minuten fort, als er auch schon wieder zu ihnen zurückkehrte – mit verdrossener Miene und einem ihnen bereits leidvoll bekannten Bogen Papier in der Hand. »Eines muss man dem Orden lassen«, brummte der Junge. »Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat – euch zu fangen beispielsweise – , setzt er wirklich alle Hebel in Bewegung, um sein Ziel zu erreichen.«
Carya betrachtete den Steckbrief, der Jonans und ihr Gesicht zeigte. Die Belohnung auf ihre Ergreifung war seit der versuchten Rettung ihrer Eltern und dem Kampf gegen die Templersoldaten noch einmal erhöht worden.
Pitlit stieß ihr freundschaftlich aufmunternd den Ellbogen in die Seite. »Na, das hättest du auch nicht gedacht, hm? Dass du jemandem mal so viel wert sein würdest?«
»Zumindest nicht so«, gab sie ihm recht.
»Also eins ist klar: Ich würde dich dafür nicht verraten! Die könnten mir das Doppelte bieten, das Zehnfache.Aus mir würden die nichts rauskriegen.«
Carya schenkte ihm ein mildes Lächeln. »Danke, Pitlit. Das weiß ich zu schätzen.«
»Was ihn hingegen angeht … « Der Straßenjunge schielte zu Jonan hinüber.
»He«, brummte der beleidigt.
»War nur Spaß!«, beeilte sich Pitlit hinzuzufügen.
Einige Kilometer weiter tauchten in der Ferne erneut Hügel auf. Die Landschaft verlor ihre Weite, Buschwerk und Bäume rückten wieder näher an die Handelsstraße heran. Sie erreichten eine riesige Kreuzung, an der sich der Weg teilte und in eine quer von Nordwesten nach Südosten verlaufende Motorwagenstraße mündete. Obwohl sie eigentlich ahnten, wohin sie sich wenden mussten, warfen sie vorher noch einen Blick auf Caryas Karten, bevor sie in nordwestliche Richtung weitergingen.
Immer wieder sah Jonan besorgt auf seinen Strahlungsmesser. Aber er steckte ihn stets wieder weg, ohne etwas zu sagen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Carya ihn.
»Ja«, antwortete er. »Die Werte sind etwas höher, als es mir lieb wäre, aber solange wir hier kein Haus bauen und unser Leben verbringen wollen, sollte das keine Folgen haben. Merkt ihr denn irgendetwas? Übelkeit? Schwindel?«
Carya schüttelte den Kopf, und auch Pitlit verneinte.
Während sie weitergingen, holte Carya die Karte ihresVaters hervor, die Onkel Giac ihr gegeben hatte. Auch wenn die beigefügte Bleistiftzeichnung keiner Landschaftsformation vorihnen unmittelbar zu entsprechen schien, hatte sie doch das Gefühl, dasssiesich ihrem ersten Ziel, der Absturzstelle derKapsel, näherten.
»Weißt du was?«, fragte Pitlit Carya irgendwann, während Jonan ihnen gerade ein paar Schritte vorausging.
»Hm?«
»Es ist wegen Ugo.«
»Was meinst du damit?«, fragte Carya.
»Ihr wolltet doch wissen, warum ich mit euch kommen und Arcadion verlassen wollte«, erwiderte der Straßenjunge. »Es ist, weil Ugo tot ist.« Er machte ein bedrücktes Gesicht. »Er war mein
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