Flammen über Arcadion
auf die anderen Trümmerteile, die noch aus der Erde ragten. »Diese ganzen Metallreste. Wenn hier Plünderer am Werk gewesen sind, wieso haben sie nicht jedes bisschen verwertbaren Metalls mitgenommen? Das sieht ihnen gar nicht ähnlich.«
»Vielleicht wurden sie gestört«, meinte Jonan. »Und mussten von hier verschwinden, bevor sie alles mitnehmen konnten.«
»Aber wer sollte sie hier draußen … «
Im Wald knackte ein Ast, so als habe ihn ein unachtsamer Fuß zertreten.
»… stören«, beendete Carya misstrauisch ihren Satz. Dabei erhob sie sich langsam und blickte sich beunruhigt um.
Jonan tat es ihr gleich. Er entsicherte sein Sturmgewehr.
»Das war ein Tier, oder?«, fragte Pitlit nervös. Auch er hatte das Geräusch vernommen. »Kommt schon. Sagt, dass es ein Tier war.«
»Es war ein Tier, Pitlit«, sagte Jonan.
»Ich glaube dir nicht«, jammerte der Straßenjunge.
»Ich glaube mir auch nicht.«
Carya sah, wie er das schwere Sturmgewehr in Anschlag nahm und mit dem Lauf den Waldrand absuchte.
Auf einmal kam Bewegung in die Schatten unter den Bäumen. Überall um sie herum war ein Rascheln, Knistern und Knacken zu hören, das vom Nahen vieler Geschöpfe kündete. Dass es sich dabei um Tiere handeln könnte, hielt auch Carya mittlerweile für einen absurden Gedanken. Stattdessen stieg vor ihrem geistigen Auge das Bild der Motorradgang auf, die im Ödland diesen eigenartigen Reiter getroffen hatte, der den Gangmitgliedern eine Belohnung versprochen hatte, wenn sie einen Dienst für ihn erfüllten – den Dienst, Jonan und Carya gefangen zu nehmen?
Pitlit stieß ein erschrockenes Quieken aus. Jonan fluchte leise. Dann sah auch Carya, dass die Wahrheit womöglich noch schlimmer war als ihre Vorstellung. Die Männer und Frauen, etwa ein Dutzend an der Zahl, die unter dem Blätterdach hervortraten und sie in einem losen Kreis umstellten, waren Mutanten!
Hundert schaurige Geschichten kamen ihr in den Sinn, als sie die verwachsenen Körper in den groben Kleidern aus Leder, Tierfellen und scheinbar wahllos in Besitz genommenen Beutestücken erblickte, die zum Teil wie geschmolzen wirkenden Gesichter und vor allem die Speere und Bögen in den Händen der Neuankömmlinge. Mutanten galten als die Schrecken der Wildnis, als grausame Krieger, deren körperliche Entstellungen ein Spiegelbild der Dunkelheit in ihrer Seele waren. Man sagte ihnen, hinter furchtsam vorgehaltener Hand, abscheuliche Praktiken nach. Angeblich scherten sie sich weder um Sitte noch Anstand, lebten in Sünde, jeder Mann mit jeder Frau des Stammes, manche von ihnen sollten sogar mit Tieren verkehren. Am schlimmsten jedoch war die Gewissheit, dass nie ein Mensch, den sie in ihre knotigen Klauen bekommen hatten, wieder zurückgekehrt war, denn sie töteten und verspeisten ihre Gefangenen.
So behaupteten es zumindest die Jungen in Caryas Klasse. Und auch wenn Carya sich früher immer gefragt hatte, woher die das bitteschön alles wissen wollten, kamen ihr die schrecklichen Erzählungen auf einmal nicht mehr so weit hergeholt vor wie damals.
»Ganz ruhig«, sagte Jonan leise. »Ich habe das Gefühl, die sind genauso überrascht wie wir, hier jemanden anzutreffen. Aber ich glaube nicht, dass sie uns etwas tun wollen.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Carya.
»Wenn sie uns hätten töten wollen, hätten sie uns aus dem Schatten der Bäume heraus mit Pfeilen erschießen können. Sieh doch: Sie sind für die Tierjagd bewaffnet. Außerdem tragen sie keine Kriegsbemalung.«
»Sie tragen sonst Kriegsbemalung ?«, echote Pitlit mit dünner Stimme.
»Diejenigen, die ich kämpfend erlebt habe, waren bemalt, ja«, bestätigte Jonan. Er senkte langsam das Gewehr. Angesichts der Übermacht war das wohl eine kluge Entscheidung. Selbst wenn er die Hälfte von ihnen niedermähte, würde die andere Hälfte sie vermutlich umbringen – und selbst wenn die Mutanten flohen, konnten sie jederzeit mitVerstärkung zurückkehren. Carya, Jonan und Pitlit befanden sich tief in der Wildnis. Das hier war die Heimat der Mutanten.
»Ich versuche, mit ihnen zu reden«, verkündete Jonan. Er breitete die Arme aus und zeigte seine leeren Handflächen als Zeichen seiner friedlichen Absichten.
Der Kreis der Mutanten schloss sich um sie, als die Männer und Frauen vorsichtig näher kamen. Einer der Mutanten trat vor, ein kräftiger Mann mit schulterlangem, eisengrauem Haar und einem Bart von gleicher Farbe. Seine gebräunte Haut war von fleischfarbenen Flecken
Weitere Kostenlose Bücher