Flammen über Arcadion
Himmels «, raunte Jonan ihr zu. In seinen Augen funkelte Belustigung.
Einem schmalen Trampelpfad folgend erklommen sie die Bergflanke, und etwa gegen Mittag überquerten sie den Kamm. Dahinter lag, zu Caryas Erstaunen, ein Dorf. Es erstreckte sich entlang des Osthangs des Berges, oberhalb eines kleinen Sees, und bestand aus einer Ansammlung alter Steinhäuser, deren ursprüngliche Bewohner wahrscheinlich längst tot waren. Die Ruinen waren von den Mutanten in Besitz genommen worden. Eine provisorische Palisade, die zum Teil aus Baumstämmen, zum Teil aus dornigem Gestrüpp bestand, umgab das Dorf und schützte es vor wilden Tieren.
Als sie sich näherten, stellte Carya fest, dass ihr Kommen bereits von Spähern angekündigt worden sein musste. Das ganze Dorf schien auf den Beinen und sich am Eingang des Palisadenzauns versammelt zu haben. Männer, Frauen und Kinder tummelten sich dort, und in ihren Augen lag keine Gier nach Menschenfleisch und auch kein Hass auf die Fremden aus der großen Stadt. Die meisten von ihnen wirkten vor allem neugierig, vielleicht gar ein wenig ängstlich.
Diese Regungen kamen Carya verstörend vertraut vor. Kaum anders sah es auf den Straßen von Arcadion aus, wenn seltener Besuch angekündigt war. Einmal war der Mondkaiser der Einladung des Lux Dei gefolgt, und als er in einer feierlichen Prozession den Corso hinuntergefahren war, waren die Gehwege und anliegenden Häuser genauso voll von aufgeregt tuschelnden Schaulustigen gewesen wie die Dorfstraße, der sie jetzt folgten.
Der einzige Unterschied bestand darin, dass dies hier keine normalen Menschen waren, sondern Mutanten. Jeder von ihnen trug die Spuren der Dunklen Jahre am Leib oder in seinem Geist. Während Carya sich furchtsam umschaute, sah sie ein bizarres Panoptikum verwachsener Körper, aufgeblähter Schädel, schuppiger Haut und verkümmerter Gliedmaßen. Manche der Kinder hatten ein schwachsinniges Grinsen auf den Lippen, andere starrten ihr ohne jedes Begreifen entgegen. Und kaum einer von ihnen schien älter als dreißig oder vierzig Jahre zu sein.
Wie hatte die junge Frau die Plage genannt, die hier alle zu quälen schien? Den lautlosen Tod. Carya schauderte unwillkürlich. Auf einmal verspürte sie Mitleid, grenzenloses Mitleid mit den Mutanten, die vom Wesen her so gar nicht dem Bild der grausigen Ungeheuer entsprachen, das die kindliche Fantasie und sicher auch gezielte Ordenspropaganda in Arcadion von ihnen zeichnete. Keiner von ihnen hatte das Geringste mit dem Sternenfall zu tun gehabt, doch sie alle litten unter seinen Folgen. »Licht Gottes«, murmelte sie erschüttert.
»Das Licht Gottes scheint für diese Menschen schon lange nicht mehr«, ertönte eine Stimme in der Menge. Ein Mann, der etwa im Alter von Caryas Vater sein mochte, trat daraus hervor. Sein blondes Haar schien vorzeitig ausgeblichen zu sein, und seine ungewöhnlich zivilisierte Kleidung wirkte zerschlissen, aber sein Körper war offenbar frei von Krankheiten, und das Funkeln in seinen ungewöhnlich blauen Augen zeugte von einem gesunden Geist. »Hier draußen gibt es nur die gnadenlose Sonne«, fuhr er fort, »die ihre Haut und ihre Felder verbrennt.«
»Wer sind Sie?«, fragte Carya.
»Ich bin Nessuno. Ich diene diesem Dorf als Arzt.«
»Sie sehen aus wie ein Städter. Wurden Sie verschleppt oder sind Sie freiwillig hier?«, mischte sich Jonan ein.
Nessuno bedachte ihn mit einem abschätzenden Blick. »Meine Geschichte spielt keine Rolle. Aber deine, Mädchen … «, er musterte Carya, »… auf deine bin ich außerordentlich gespannt. Kommt. Der Dorfälteste erwartet euch bereits.«
Der Rest der Jagdgruppe blieb zurück und verschmolz mit der Menge der Schaulustigen. Nur ihr Anführer begleitete Carya, Jonan und Pitlit, als diese Nessuno folgten, der sie zum Dorfplatz brachte. Der Platz wurde von mehreren Häusern gesäumt, darunter auch ein tempelartiges Bauwerk mit einem scheunentorgroßen Portal, zu dem drei steinerne Stufen emporführten.Auch hier standen Mutanten, und weitere strömten erwartungsvoll hinter Carya und den anderen auf die freie Fläche.
Auf den Stufen erwartete sie ein Mann. Es handelte sich um einen glatzköpfigen Hünen mit dunklen Augen, der einen weiten schwarzen Umhang trug, an den Unmengen glitzernden Tands genäht worden war – polierte Metallscheiben, farbige Kristalle, spiegelndes Glas. Das Sonnenlicht, das auf das Kleidungsstück fiel, ließ es schimmern und glitzern wie ein nächtliches Firmament
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