Flammen über Arcadion
Diese sind keine Entschuldigung für Ihr persönliches Versagen. Wie lange arbeiten Sie schon für den Tribunalpalast?«
»Seit zweiunddreißig Jahren, Euer Ehren.«
»In dieser Zeit, so sollte man denken, haben Sie Einblicke in unsere Gesellschaft und die Gefahren, die ihr von innen und außen drohen, gewonnen, die weit über das hinausgehen, was ein normaler Bürger darüber weiß. Würden Sie dem zustimmen?«
»Ja, Euer Ehren.«
»Ihnen ist also bewusst, dass es in der Welt jenseits unserer festen Mauern Kräfte gibt, die Arcadion zerstören wollen?«
»Jawohl, Euer Ehren.«
»Und dennoch hielten Sie es nicht für notwendig, die Behörden zu unterrichten, als Sie vor zehn Jahren dieses Mädchen … «, er deutete auf Carya, »… in der Wildnis entdeckten, in einer abgestürzten Flugkapsel, deren Erbauer offenkundig über eine fortschrittliche Technologie verfügen, wie man sie Gerüchten zufolge etwa in Austrogermania, im Reich des Ketzerkönigs, findet.«
Seine Worte ließen Carya aufmerken. Austrogermania? War das möglich? Stammte sie von dort? Lagen die Koordinaten, die sie nach ihrer Vision in der Kapsel aufgeschrieben hatte, im Land des Ketzerkönigs? Die Koordinaten! Carya zuckte unwillkürlich zusammen. Der Zettel befand sich noch immer im Dorf der Mutanten. Oh, Licht Gottes, bitte lass ihn nicht verloren gegangen sein. Denn so klar ihr die lange Zahlenkolonne unmittelbar nach der Vision vor Augen gestanden hatte, mittlerweile konnte sie sich kaum mehr an die Hälfte erinnern.
»Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?«, fragte Aidalon unterdessen Caryas Vater, der schweigend und verstört vor dem Richter stand. »Antworten Sie!«
»Ich … ich habe nicht an die Folgen gedacht«, gestand er. »Sie war doch nur ein Kind.«
»Es gibt kein › nur ‹ in Zeiten des Krieges! Die Gefahr kommt in unerwartetem Gewand. Wie sich gezeigt hat, denn durch Ihre Dummheit haben Sie eine Mörderin großgezogen, eine Bombe, die nur darauf gewartet hat hochzugehen! Jetzt hat dieses Kind bereits Menschen getötet und verletzt. Es hat sich einer Widerstandsgruppe angeschlossen. Es hat mit Invitros und Mutanten paktiert. Und das alles, weil Sie nicht nachgedacht haben! Fällt Ihnen dazu noch etwas ein, Diodato?«
Caryas Vater senkte den Kopf. »Nein, Euer Ehren.«
»Mir auch nicht.« Aidalon blickte nach links. »Verteidigung, irgendwelche Fragen?«
Erst jetzt bemerkte Carya, dass im Schatten des Richtersitzes ein einsamer, bebrillter Mann an einem Tisch hockte und mit großem Erfolg damit beschäftigt war, nicht weiter aufzufallen. Auf die Worte des Großinquisitors hin hob er den Blick und schüttelte den Kopf. »Keine Fragen, Euer Ehren.«
»Schön. Abführen.« Aidalon machte eine herrische Geste, und die Wachen brachten Caryas Vater zu seinem Platz zurück. »Diodato, Andetta!«
Mitfühlend blickte Carya zu ihrer Mutter hinüber, die sich die Augen mit einem Taschentuch abtupfte, um nicht verheult vor den Richtersitz zu treten. Ihre Eltern hatten so eine Behandlung nicht verdient. Sie waren alles andere als Verbrecher, sondern vielmehr die bravsten und umgänglichsten Bürger Arcadions, die Carya kannte.
»Euer Ehren«, sagte Caryas Mutter, als sie sich vor Aidalon hinstellte.
»Ich mache es kurz, da die Anklagen im Wesentlichen denen Ihres Mannes entsprechen. Doch obgleich in seinem Fall grenzenlose und sträflich gefährliche Dummheit Grund für sein Handeln gewesen sein mag, kann ich das in Ihrem Fall nicht annehmen.«
»Mein Mann ist nicht dumm, sondern … «
»Schweigen Sie, solange Sie nichts gefragt werden!«, fiel der Großinquisitor ihr ins Wort.
»… nicht dumm, sondern der barmherzigste Mensch, den ich mir vorstellen kann«, fuhr Caryas Mutter beharrlich fort. »Und Barmherzigkeit, so lehrt uns das Licht Gottes … «
»Versuchen Sie mich nicht zu belehren, Weib!«, donnerte Aidalon. »Ich kenne die heiligen Schriften. Und die Familien der Soldaten, die Ihre Tochter und diese … diese … «, er blickte auf seine Unterlagen, als sei ihm der Name eines so unwichtigen Ärgernisses entfallen, »… Ascherose angegriffen haben, kennen sie auch. Erzählen Sie den Eltern des erschossenen Wachmannes von Barmherzigkeit. Oder der Frau des Kutschers, deren Gemahl im Krankenhaus liegt.«
Betroffen senkte Caryas Mutter den Kopf. »Es tut mir leid, was geschehen ist.«
»Das freut uns alle zu hören. Umso mehr stellt sich mir die Frage, warum Sie Ihre Tochter dann auch noch in Ihrem schändlichen
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