Flammen über Arcadion
Templer.
»Dann lassen Sie uns gehen.«
Carya erwartete, dass man sie sogleich in die Richtkammer führen würde. Doch diese Annahme erwies sich als Irrtum.
Zunächst brachte man sie in einen Raum mit Waschgelegenheiten und befahl ihr, sich zu säubern und umzukleiden. Auf einem Stuhl lagen eine helle Bluse und ein brauner Rock, dazu frische Unterwäsche und ein paar Schuhe. Offenbar sollte Carya für den Prozess ordentlich aussehen und nicht wie eine übernächtigte, schmutzige Wilde. Obwohl ihr diese Täuschung im Grunde zuwider war , die nur die wahren Umstände verschleierte, unter denen Gefangene hier im Tribunalpalast gehalten wurden, folgte sie den Anweisungen. Denn zum einen würde man sie ansonsten dazu zwingen, und zum anderen war die Verlockung eines nassen Schwamms und frischer Kleidung auf der Haut einfach zu groß.
Während sie ihre Sachen abstreifte, sich wusch, dann ihr Haar bürstete und zu einem Zopf flocht und schließlich die neuen Kleider anlegte, blieb der Gardist draußen vor der Tür stehen. Allerdings musste er sich auch keine Sorgen machen, dass sein Schützling das Weite suchen könnte. Das einzige Fenster des Raums war mit einem schweren Gitter versehen.
Als Nächstes brachte man sie in einen Raum mit einem Stuhl und einem Tisch, auf dem eine Schale mit warmer Suppe, ein kleiner Korb mit Brot und ein Krug Wasser standen. »Iss«, sagte der Templer, bevor er sich am Eingang postierte. Auch hier gehorchte Carya ohne Widerstand. Sie war dankbar dafür, dass man ihr nur eine leichte Mahlzeit hingestellt hatte. Etwas anderes hätte ihr Magen nach der letzten Nacht nicht vertragen. Aber wahrscheinlich weiß die Gefängnisküche das auch, dachte sie sarkastisch.
Nachdem sie sich gestärkt hatte, geleitete der Templer sie endlich hinunter in die Richtkammer. Auf den ersten Blick wirkte der Raum dem sehr ähnlich, den sie bereits von ihrem letzten, deutlich kürzeren Aufenthalt im Tribunalpalast in leidvoller Erinnerung hatte. Er zog sich schachtartig in die Höhe, bestand vollkommen aus Stein und war mit Bannern geschmückt, die die dreistrahlige Halbsonne des Lux Dei zeigten. Am Boden in der Mitte gab es auch einen Richtblock. Allerdings war dieser von einem halbhohen Holzgeländer umgeben, und einige Stühle waren dort angeordnet. Direkt davor erhob sich der Carya bekannte Richtersitz, der hier allerdings sieben Plätze aufwies. Und an den Wänden zu beiden Seiten zogen sich mehrere offene Sitzreihen in die Höhe, auf denen Publikum Platz nehmen konnte. Es hatte den Anschein, als sei diese Kammer für öffentliche Prozesse eingerichtet worden, während die andere für Verhandlungen reserviert war, die hinter verschlossenen Türen und allein vor geladenen Gästen abgehalten wurden.
Der Richtersitz war noch leer, auf den Zuschauerbänken tummelten sich allerdings bereits zahlreiche Gäste. Leises Gemurmel erfüllte die Kammer. Viele der Anwesenden trugen die Uniformen der Inquisition und des Templerordens. Doch es gab auch Zivilisten, wahrscheinlich Politiker des Stadtrats und Journalisten.
Auf einer Bank ganz oben erblickte Carya das Schwarzgrau der Schuluniformen der Akademie des Lichts. Die Beleuchtung im Raum, die sich auf den Richtblock und das Richterpult konzentrierte, machte es ihr schwer, aber sie glaubte, unter den anwesenden Schülern das blondierte Haar Miraelas und die feiste Gestalt Antonjas’ zu erkennen. War Signora Bacchettona mit ihrer Klasse gekommen? Das hätte zu der Lehrerin gepasst. Ein Schulausflug in den Tribunalpalast und Carya als lehrreiches Beispiel, um zu demonstrieren, wohin es einen brachte, wenn man vom rechten Weg abwich. Denk nicht darüber nach , sagte sie sich. Du hast in diesem Raum nur einen Gegner, der zählt: Großinquisitor Aidalon.
Am Eingang der Richtkammer, flankiert von schwarz uniformierten Wachen, saßen ein Mann und eine Frau auf einer Wartebank. Caryas Herz machte einen Satz. Ihre Eltern! Carya beschleunigte ihre Schritte. »Mama!«, rief sie. »Papa!«
Ihre Eltern drehten sich um und erhoben sich von ihren Plätzen. Die Wachen ließen es geschehen. Sie schritten auch nicht ein, als Carya die beiden innig umarmte.
»Oh, Carya«, sagte ihre Mutter. »Ich bin so froh, dich zu sehen.« Tränen traten ihr in die Augen.
»Ich freue mich auch, Mama«, erwiderte Carya, deren Augen ebenfalls feucht wurden. Sie blinzelte rasch und wischte sich mit der Hand übers Gesicht. Sie wollte sich vor all den Leuten keine Blöße geben. »Geht es euch
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