Flammen über Arcadion
paar kräftige Arme und eine starke Brust, an die man sich anschmiegen konnte, nicht grundsätzlich zu verachten. Selbstverständlich war auch der Charakter wichtig. Mit den selbstverliebten Straßenjungen, auf die man überall in Arcadion traf, wollte sie auch nichts zu tun haben.
»Was macht er denn so?«, wollte sie wissen.
»Er studiert Geschichte an der Universität«, sagte Rajael. »Es ist unglaublich, wie belesen er ist. Ich bin sicher, dass er Dinge über die Vergangenheit von Arcadion weiß, also die Zeit vor dem Sternenfall, die heute kaum noch jemandem bekannt sind. Du weißt ja, wie der Lux Dei zurVergangenheit steht.«
Das war Carya in der Tat aus dem Schulunterricht bekannt. Für den Lux Dei teilte sich die Menschheitsgeschichte in zwei Phasen. Zum einen gab es die Zeit vor dem Sternenfall, die im Wesentlichen verteufelt wurde, auch wenn sich die Gründe dafür auf bestenfalls hundert Jahre bezogen. Eine intensivere Auseinandersetzung mit jener Zeit wurde nicht gerne gesehen, auch wenn sie nicht rundheraus verboten war. Praktisch alle Lehren für die Zukunft zog der Lux Dei stattdessen aus der zweiten Phase, den Dunklen Jahren nach dem Sternenfall, die als schmerzhafte Geburtswehen der heutigen Zivilisationen betrachtet wurden. Dass damit Jahrtausende an Geschichte verdrängt wurden, nahm der Orden billigend in Kauf. Es zählte nicht, was gewesen war, sondern was kommen würde.
Dass einige Ältere, unter ihnen Caryas Onkel Giac, diese Einstellung nicht guthießen und sich für einen Erhalt allen Wissens einsetzten, konnte sie noch verstehen. Sie waren in anderen Zeiten aufgewachsen. Doch dass ein junger Mann wie Tobyn alte Geschichte studierte, fand sie reichlich ungewöhnlich. »Ich glaube, Onkel Giac würde ihn mögen«, meinte sie.
»Und du wirst ihn auch mögen«, versicherte Rajael ihr. »Keine Sorge, er ist kein weltfremder Denker. Er ist wirklich nett.«
Als Carya sah, wie die Augen ihrer Freundin bei diesen Worten leuchteten, musste sie lächeln. »Ich glaube dir. Sonst hättest du dich wohl auch nicht in ihn verliebt.«
»Ganz meine Rede. Und hier sind wir schon.« Rajael deutete auf ein kleines Café. Es lag in einer schmalen Seitengasse östlich des Corso. Caffè Speranza stand über dem Eingang. Weiß gestrichene Holzstühle und Tische drängten sich bis auf die Straße hinaus. Die Passanten störte das nicht. Dergleichen war man in Arcadion gewohnt.
Carya runzelte die Stirn. Das Café kannte sie gar nicht. Bisher hatten Rajael und sie ihre gemeinsamen Nachmittage in der Stadt an anderen Orten ausklingen las sen. Als sie diesem Gedanken A usdruck verlieh, nickte Rajael. »Tobyn hat es mir gezeigt. Es wird dir gefallen.«
Sie setzten sich an einen Tisch im Inneren des Cafés, wo sie vor dem Trubel in der Gasse ein wenig geschützt waren. Da die bis zum Boden reichenden Fenster alle offen standen, fühlte man sich trotzdem beinahe, als säße man im Freien. Rajael setzte sich so, dass sie das Treiben draußen gut im Blick behalten konnte, Carya ließ sich ihr gegenüber nieder.
Der Inneneinrichtung nach zu urteilen, gab es das Caffè Speranza noch nicht sehr lange. Alles wirkte sauber, neu und mit viel Liebe zusammengestellt. Erstaunlicherweise schien sich das Café dennoch bereits einen gewissen Ruf erarbeitet zu haben, denn viele Tische waren besetzt, und das nicht nur mit jungen Leuten, die der Zufall hierhergeführt haben mochte, sondern auch mit älteren, dieser ganz speziellen Sorte Gäste, die einem Wirt viele Jahre die Treue hielten und irgendwann zu einem festen Teil der Einrichtung wurden.
»Gibt es das Café schon lange?«, fragte Carya ihre Freundin.
»Soweit ich weiß, ja«, erwiderte Rajael. »Aber die Betreiberin ist mit ihm erst kürzlich umgezogen.«
»Ah.« Das erklärte natürlich einiges.
Ein junges Mädchen nahm ihre Bestellungen auf, gebracht wurden die zwei Tassen mit dampfendem Malzkaffee allerdings von einer Frau mittleren Alters, die Rajael freundlich zulächelte, als sie die Getränke auf den Tisch stellte. »Du bist in letzter Zeit aber häufig hier«, sagte sie.
Rajael wirkte etwas verlegen. »Ich treffe mich mit meinem Freund«, gab sie zurück. »Das ist Carya, meine Freundin, von der ich dir schon erzählt habe. Deren Vater als Gerichtsdiener im Tribunalpalast arbeitet.«
Carya fand es ein wenig seltsam, dass Rajael ausgerechnet das erwähnte, aber sie schenkte der Frau dennoch ein höfliches Lächeln, als diese ihr zunickte.
»Freut mich, dich
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