Flammen über Arcadion
Rajael heran. Carya vermochte sein Gesicht nicht mehr richtig zu erkennen, aber es hatte den Anschein, als versuche er, Rajael irgendetwas einzuschärfen. Caryas Freundin stellte eine halb trotzige, halb verzweifelte Miene zur Schau und schüttelte vehement den Kopf. Daraufhin legte Tobyn ihr die Hand auf den Arm und schien seine Worte noch etwas eindringlicher zu wiederholen. Schließlich senkte Rajael den Kopf und nickte matt.
Ihr Freund warf einen verstohlenen Blick in die Runde und zwang Carya, hinter der Mauer abzutauchen. Als sie es wagte, den Kopf wieder zu heben, sah sie gerade noch, wie sich Rajaels Hand um irgendetwas schloss, bevor sie es rasch in ihre Rocktasche steckte.
Tobyn erhob sich halb, und Carya riss die Augen auf, als er Rajael vor den Augen aller Gäste küsste. Es war ein kurzer, beinahe hastiger Kuss, doch es sah aus, als läge die Leidenschaft der Verzweiflung darin. Die Vorstellung, dass ein Mann sie einmal auf diese Weise küssen könnte, sandte einen Schauer der Erregung durch Carya.
Gleich darauf wandte Tobyn sich um und verließ schnellen Schrittes das Café. Rajael schien versucht, ihm nachzufolgen, doch sie unterdrückte das Verlangen und sank zurück auf ihren Stuhl.
Diesen Augenblick hielt Carya für günstig, um zu ihrer Freundin zurückzukehren. »Wo ist Tobyn hin?«, fragte sie und war dankbar dafür, dass sie wegen seines Verschwindens ein wenig verblüfft aussehen durfte, denn es wäre ihr schwer gefallen, ihr Wissen um das Beobachtete völlig aus ihrer Miene zu verdrängen.
Rajael blickte zu ihr auf. Sie rang sichtlich um Fassung. »Er … Ich … « Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, ich kann es dir nicht sagen.«
Mitfühlend setzte Carya sich neben die Freundin. »Natürlich kannst du es mir sagen, wenn du möchtest. Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst. Ich helfe dir gerne, wenn ich dazu imstande bin. Wofür sind wir sonst Freundinnen?«
Rajaels Mund verzog sich zu einem schmerzvollen Lächeln. Sie legte Carya eine Hand auf den Arm. »Danke, Carya. Du bist ein Schatz. Aber das betrifft dich wirklich nicht. Zerbrich dir deswegen bitte nicht den Kopf.« Sie holte tief Luft und straffte sich. Dann blickte sie auf ihren kaum angerührten Kaffee hinunter.
»Kommt er wieder?«, wollte Carya wissen. »Sollen wir hier auf ihn warten?«
»Nein.« Rajael schüttelte den Kopf. »Das hätte keinen Zweck. Um ehrlich zu sein würde ich gerne nach Hause gehen. Mir ist die Lust auf Kaffee vergangen.«
»Einverstanden«, sagte Carya. »Gehen wir nach Hause und vergessen diesen Tag. Vielleicht sieht morgen schon alles besser aus.«
Das hoffte sie. Sie hoffte es wirklich.
Kapitel 6
Wenn Jonan etwas hasste, dann waren es Nachteinsätze.
Das lag daran, dass Einsätze nach Einbruch der Dunkelheit normalerweise Kommandooperationen waren, bei denen Schnelligkeit gefragt war und denen eine besondere Dringlichkeit anhaftete. Die Garde rückte nicht nach Mitternacht aus, um eine Bande Straßendiebe festzunehmen oder einen Ungläubigen zu verhaften, der im Keller seines Hauses mit einer Handpresse Schmähschriften druckte, die zur Abkehr vom Licht Gottes aufriefen.
Bislang war Jonan während seiner Zeit bei den Schwarzen Templern erst zweimal beim nächtlichen Bereitschaftsdienst zum Einsatz gerufen worden. Das erste Mal hatte sich eine Woche nach seiner Berufung in die Ränge der Garde des Tribunalpalasts zugetragen. Der Zenturio hatte ihre Einheit zusammengetrommelt, und sie waren in voller Montur mit einem Lastwagen vor die Stadt gefahren worden. In einem Bauernhaus draußen in der Wildnis hatten sie eine kleine Truppe Agenten des Ketzerkönigs überrascht, die soeben im Begriff war, sich mit Vertretern einer lokalen Rebellengruppe auszutauschen. Bei dem Feuergefecht waren neben den Übeltätern auch zwei von Jonans Kameraden getötet und ein paar weitere verletzt worden. In dieser Nacht war ihm erst so richtig bewusst geworden, dass er nicht mehr an der Templerakademie war.
Der zweite Einsatz hatte innerhalb der Mauern Arcadions stattgefunden. Die Inquisitoren des Tribunalpalasts hatten Wind von einer Versammlung bekommen, bei der eine Gruppe von Akolythen in die Gemeinschaft einer heidnischen Sekte aufgenommen werden sollte. Jonan und die anderen Templer hatten deren Gotteshaus gestürmt und alle Anwesenden einkassiert. Diese Nacht verfolgte Jonan noch heute manchmal in seinen Albträumen. Die Agenten des Ketzerkönigs und die Rebellen waren bewaffnet gewesen
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