Flammen über Arcadion
Schwarz seiner Haare wies deutliche Spuren von Eisengrau auf, und sein braungebranntes Gesicht war so zerfurcht wie die ausgetrockneten Einöden am Südrand der Einflusssphäre des Lux Dei.
Während die vier Bediensteten in die Pedale traten, hob Estarto das Kinn und schaute Jonan mit diesem Blick an, den er immer aufsetzte, wenn er etwas über das Leben und die Leistungen seines Sohnes wissen wollte. Jonan fühlte sich bei solchen Gesprächen stets wie auf dem Prüfstand, so, als müsse er jedes Mal aufs Neue das Recht erstreiten, sich Estartos Sohn nennen zu dürfen.
»Wie läuft es an der Seite von Inquisitor Loraldi?«, fragte Jonans Vater, nachdem sie sich etwa zehn Sekunden lang angeschwiegen hatten.
»Es geht so«, erwiderte Jonan einsilbig. Eigentlich hatte er überhaupt keine Lust darauf, seinem Vater Rede und Antwort zu stehen.
»Ist er zufrieden mit dir?«
»Ja. Er hat mir heute seine Kutsche angeboten. Vielleicht hätteich sie nehmen sollen.« Jonan sah seinen Vater herausfordernd an.
»Du bist immer noch wütend auf mich, weil ich dir nahegelegt habe, das Angebot, in die Garde des Tribunalpalasts einzutreten, anzunehmen«, stellte sein Vater fest.
So konnte man den Abend, an dem sie über Jonans weitere Laufbahn gesprochen hatten, natürlich auch beschreiben.
»Ich versuche, nicht mehr daran zu denken, sondern nach vorne zu blicken«, entgegnete Jonan.
Sein Vater nickte. »Das ist gut. Denn dir ist hoffentlich klar, dass ich das alles nicht getan habe, um dich wütend zu machen. Ich habe im Laufe meines Lebens schon einiges an Erfahrung gesammelt. Ich kenne die Regeln, nach denen sich das Leben in Arcadion abspielt. Daher glaubst du mir sicher, wenn ich sage, dass es eine kluge Entscheidung war, bei der Tribunalpalastgarde einzutreten. Und ebenso klug ist es, sich Loraldis Wohlwollen zu erarbeiten. Dieser Mann weiß, wie man sich Freunde in wichtigen Positionen macht. Solange sein Stern im Steigen begriffen ist, solltest du dicht bei ihm bleiben.«
»Du wiederholst dich, Vater«, versetzte Jonan. Er hatte diese Litanei schon so oft zu hören bekommen, dass er sie förmlich auswendig kannte.
Sein Vater beugte sich vor und sah ihn ernst an. »Und ich werde mich auch weiterhin wiederholen, bis du mir endlich zuhörst. Es genügt nicht, dass du meinen Anordnungen widerwillig Folge leistet, Sohn. Du musst anfangen zu begreifen, was um dich herum geschieht.Arcadion ist nicht das Paradies, als das es uns der Lux Dei verkaufen will. Das war es nie. Aber es ist das Einzige, was wir haben, das Einzige, was uns vor einem elenden Dasein draußen in der Wildnis bewahrt. Deshalb muss das System fortbestehen.«
»Auch das brauchst du mir nicht zu erzählen, Vater. Ich bin schließlich nicht dumm.«
Stadtrat Estarto lehnte sich lächelnd auf seinem Platz zurück. »Nein, das bist du nicht. Du bist mein Sohn.« Das Lächeln verblasste. »Und genau deshalb möchte ich dich warnen. In Systemen wie dem des Lux Dei gibt es nur zwei Sorten von Menschen: Herrscher und Diener. Die Herrscher verfügen über eine Macht,die sie vor vielem beschützt, das einem normalen Menschen zum Problem werden könnte. Die Diener dagegen sehen sich der ständigen Gefahr ausgesetzt, zum Opfer zu werden, wenn das System Opfer fordert. Denk mal darüber nach. Dann verstehst du meine Beweggründe vielleicht besser.«
Mit einem sanften Rucken kam ihr Gefährt zum Stehen. Jonan blickte durch die Scheibe und sah, dass sie die Kaserne der Templer erreicht hatten. Er wandte sich ein letztes Mal seinem Vater zu. »Wie gesagt, Vater: Ich bin nicht dumm. Womöglich verstehe ich deine Beweggründe besser, als du glaubst. So frage ich mich etwa, was dir mehr Sorge bereitet: dass ich ein Opfer des Systems werden könnte oder dass du unter die Räder kommst, wenn ich meine Pflicht nicht wie erwartet erfülle?«
Ohne seinem Vater die Gelegenheit zu geben, darauf zu antworten, öffnete er die Tür des Wagens, stieg aus und schlug sie hinter sich zu. Er nickte den vier Pedalisten zu, die geduldig wie Vieh auf den Befehl zur Weiterfahrt warteten. Dann setzte er seine Mütze auf, zog die Uniformjacke straff und marschierte auf den Eingang der Kaserne zu.
Irgendwie war er in der Stimmung, auf dem Übungsparcour ein paar Sperrholzsizilier niederzumachen.
Kapitel 5
Zwei Tage später hatte Caryas Mutter am Mittagstisch Trauriges zu verkünden: »Wusstet ihr, dass die Garibaldis beide gestern Nacht gestorben sind?«
Die Garibaldis waren ein Ehepaar um
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