Flammen über Arcadion
Fenster und den vielen dunklen alten Regalen voller Bücher und persönlichen Habseligkeiten fühlte man sich in Rajaels Heim fast wie in der gut ausgepolsterten Wohnhöhle irgendeines kleinen Pelztiers. Ein wenig beneidete Carya die Freundin um ihr Reich, auch wenn es nur wenige Quadratmeter maß und in den Augen vieler anderer eine Rumpelkammer sein mochte, in der es im Winter zu kalt und im Sommer zu heiß wurde.
An einer Wand hing ein Foto, das einen hageren, ernst dreinblickenden Mann und eine rundliche Frau mit freundlichen Augen zeigte. Beide trugen weiße Kittel und standen vor der Backsteinmauer irgendeiner Fabrik. Bei den Abgebildeten handelte es sich um Rajaels Eltern. Die Aufnahme war kurz vor ihrem Tod entstanden.
Mit einem Lächeln tauchte Rajael hinter dem Wandschirm auf. »Fertig«, sagte sie.
Carya fiel auf, dass ihre Freundin sich hübsch gemacht hatte. Ihr Haar sah frisch gewaschen aus, Wimperntusche betonte ihre dunklen Augen, und sie trug eine Bluse, die Carya noch nie zuvor an ihr gesehen hatte. Damit wirkte sie zwar nicht, als wolle sie auf einen abendlichen Ball gehen, aber für einen Ausflug in die Stadt erschien es doch ungewöhnlich.
»Hast du heute noch etwas vor?«, fragte Carya sie neckend.
Rajael hob vielsagend die Augenbrauen. »Nicht nur ich. Du auch. Wir werden Tobyn treffen. Er würde dich gern kennenlernen.«
»Tobyn?« Carya riss überrascht die Augen auf. »Ist das dein Freund?«
»Genau«, bestätigte Rajael.
»Aber wieso hast du mir vorher nichts davon gesagt? Wie sehe ich denn aus?« Carya blickte an sich herab auf ihre Kleidung.
Ihre Freundin legte ihr den Arm um die Schultern. »Du siehst gut aus – zumindest gut genug.« Sie zwinkerte Carya zu. »Wir wollen doch nicht, dass Tobyn auf einmal nur Augen für dich hat.«
»Was redest du für einen Unsinn?«, entgegnete ihr Carya. »Warum sollte er sich auch nur im Geringsten für mich interessieren?«
Rajael ließ sie los und schüttelte lächelnd den Kopf. »Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Ich kann mir keinen Mann in Arcadion vorstellen, der nicht dein Haar bewundert und sich wünscht, erleben zu dürfen, wie du es offen trägst. Und auch sonst bist du keine graue Maus, selbst wenn du dich in der Schule so kleidest.«
»Ich trage die gleiche Schuluniform wie alle«, beschwerte sich Carya, die sich nicht entscheiden konnte, wie sie auf Rajaels Kunststück reagieren sollte, sie zugleich zu loben und zu beleidigen.
»Die dich in eine graue Maus verwandelt«, beharrte ihre Freundin. »Aber womöglich ist das bei all den unreifen Jüngelchen, die dort herumlaufen, nicht die schlechteste Tarnung. Lass uns nicht weiter darüber streiten. Ich wollte dich doch nur ein wenig aufziehen. Ganz gleich, wie du aussehen magst: Tobyn wird dich sicher nicht nach deinem Äußeren beurteilen. So einer ist er nicht.«
»Na schön«, lenkte Carya ein. »Ich will dir glauben.Also komm, treffen wir deinen Tobyn. Aber auf dem Weg will ich noch ein paar Einzelheiten über ihn wissen. Dich kann ich schließlich hemmungslos ausfragen, ohne unhöflich zu wirken.«
Rajael lachte. »Das bin ich dir wohl schuldig.«
»Also, wo soll ich anfangen?«, fragte Rajael, während Carya und sie untergehakt in die Innenstadt hinuntermarschierten.
»Vorne natürlich«, gab Carya zurück. »Wann und wie habt ihr euch kennengelernt?«
»Wir kennen uns jetzt seit ein paar Wochen«, antwortete Rajael. »Wir sind uns auf dem Markt begegnet, drüben am Barberiniplatz. Ich wollte gerade Tomaten und Kartoffeln einkaufen, als so ein kleiner Taschendieb versucht hat, mir meine Geldbörse zu stehlen. Dummerweise ist er auf der Flucht direkt in Tobyn hineingerannt. Pech für ihn, Glück für mich.« Caryas Freundin grinste.
»So einfach war das?« Carya konnte es kaum fassen. Ramin war nun schon drei Monate Führer ihrer Templerjugendgruppe, und sie hatten bislang kaum mehr als ein paar Worte gewechselt.
Rajael zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, aber es hat praktisch gleich zwischen uns gefunkt. Er hat mich auf einen Kaffee eingeladen, um über den Schreck hinwegzukommen. Wir haben uns unterhalten, und es war wirklich nett. Er ist ganz anders als diese Horden von Halbstarken, die sich auf den Straßen herumtreiben und einen vor allem mit Prahlereien und ihren Muskeln zu beeindrucken versuchen.«
Erneut musste Carya an Ramin denken. Sie würde ihrer Freundin nicht widersprechen, aber in ihren Augen waren ein
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