Flammen über Arcadion
nicht länger in dieser engen Kutschkabine aus, mit Rajael neben sich und dem Revolver in ihrem Schoß. Sie brauchte frische Luft und Ruhe, um nachzudenken.
Mit einem Ruck sprang sie auf und hämmerte gegen die vordere Wand, die sie vom Kutscher trennte. »Anhalten!«, rief sie.
»Carya, was machst du?«, fragte Rajael erschrocken.
»Lass mich in Ruhe«, fauchte Carya. »Du bist an allem schuld!« Bevor die Kutsche vollständig angehalten hatte, öffnete sie bereits den Verschlag und sprang nach draußen.
»Warte!«, rief Rajael ihr nach, doch Carya hörte nicht auf sie. Hals über Kopf stürzte sie aufs Geratewohl davon, hinaus in die Nacht. Sie befanden sich nicht weit vom Nordtor Arcadions entfernt. Vor ihr lag eine Gasse, die in einer Treppe endete, die wiederum zu einer der Serpentinenstraßen an der Flanke des Pinciohügels führte. Sie stürmte die Treppe hinauf und wandte sich nach rechts. Über ihr, am gestuften Berghang, ragten altes Mauerwerk und noch ältere Bäume in den sternklaren Nachthimmel. Noch gestern hätte sie die Szenerie als romantisch empfunden. Heute hatte sie keinen Blick dafür.
Hinter sich vernahm sie schnelle Schritte. Jemand rannte ihr nach. Wahrscheinlich war es Rajael. Carya wollte nicht von ihr eingeholt werden und versuchte, noch schneller zu laufen. Aber langsam waren ihre Kräfte aufgezehrt. Sie konnte nicht mehr. Keuchend erklomm sie eine weitere Treppe und erreichte einen kleinen, verwilderten Park, der im Schatten des Aureuswalls auf diesem Teil des Pinciohügels gedieh, ein letztes Überbleibsel der ungleich größeren Grünanlagen von einst.
Hier zwischen den dichten Büschen und verwachsenen Bäumen, um die sich kein Gärtner kümmerte, war es merklich dunkler. Carya hörte den Kies unter ihren Füßen knirschen, aber sie konnte kaum noch etwas sehen. Sie trat gegen einen Stein, stolperte und fiel der Länge nach hin. Ihre Knie und Handballen machten auf unschöne Weise mit dem Parkweg Bekanntschaft. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Statt sich jedoch wieder aufzurappeln und weiterzulaufen, ließ sie sich ganz zu Boden sinken. Sie krümmte sich zusammen wie ein Kind im Mutterleib und blieb leise schluchzend liegen.
Wenige Augenblicke später vernahm sie vorsichtige Schritte auf dem Kiesweg, dann sank jemand neben ihr zu Boden, und eine Hand legte sich tröstend auf Caryas Schulter.
Schniefend blickte Carya auf. Es war Rajael, die an ihrer Seite kniete. »Verschwinde«, knurrte sie.
»Es tut mir leid«, sagte Rajael leise.
Carya blinzelte und setzte sich auf. Sie wischte sich über die tränenverschleierten Augen. »Ist mir egal.«
»Das habe ich nicht gewollt«, beteuerte ihre Freundin.
»Ach nein?« Carya lachte humorlos auf. »Warum hattest du dann den Revolver bei dir, als wir in den Tribunalpalast gefahren sind?« Der Gedanke daran entfachte ihren Zorn aufs Neue. »Erzähl mir nicht, du hättest das alles nicht vorab geplant! Du wolltest Tobyn erschießen! Aber mir hast du kein Wort davon gesagt. Du hast mich einfach so ins offene Messer laufen lassen.«
»Du hättest mir niemals geholfen, wenn ich dir verraten hätte, was ich vorhabe.«
»Selbstverständlich nicht!«, empörte sich Carya. »Die Idee war ja auch völlig verrückt. Hast du auch nur fünf Minuten über die Folgen nachgedacht? Dein toller Invitrofreund mag ohne Schmerzen gestorben sein, so wie du es dir gewünscht hast, und auch euer elendes Brutlabor ist in Sicherheit. Aber zu welchem Preis? Jetzt ist meine Familie in Gefahr. Die Inquisitoren haben meinen Namen, sie kennen meinen Vater. Sie werden kommen und uns holen. Und was glaubst du, was dann mit meiner Mutter, meinem Vater und mir geschehen wird? Hast du dich das mal gefragt?« Sie schrie jetzt beinahe. Ihr war gleichgültig, ob sie jemand hörte, so wütend war sie. Allerdings war um diese Nachtzeit für gewöhnlich ohnehin keine Menschenseele mehr auf dem Pinciohügel unterwegs.
Rajael blickte zu Boden. »Es tut mir so leid, Carya. Ich hatte keine andere Wahl.«
»Mir tut es auch leid!«, erwiderte Carya hitzig. »Es tut mir leid, dass ich geglaubt habe, du wärst meine Freundin.« Sie kam auf die Beine und blickte auf Rajael hinunter. »Aber das ist jetzt vorbei. Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben, hörst du? Geh doch zu deinen Invitrofreunden und werdet glücklich mit euren künstlichen Babys. Ich hasse dich!«
Rajael beugte sich vor und nahm den in die Handschuhe gewickelten Revolver, den Carya fallen
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