Flammen über Arcadion
Frau einen unwilligen Blick zu. Offenbar gefiel es ihm nicht, dass sie seine Disziplinarmaßnahmen bereits durch Fürsorge untergrub, bevor er damit überhaupt angefangen hatte.
Doch auch Carya schüttelte den Kopf. »Nein, Vater, Mutter, wartet. Bevor ihr schimpft oder mir Tee kocht, hört mich an. Etwas Schreckliches ist geschehen, und ihr müsst sofort davon erfahren.«
Beunruhigt nahm Caryas Mutter den Teekessel in beide Hände und presste ihn sich an den Bauch. Sie wechselte einen unsicheren Blick mit Caryas Vater.
»Also dann los: Erzähl mal«, brummte dieser. »Wo hast du den ganzen Tag gesteckt? In was für einem unsäglichen Aufzug läufst du herum? Und wer hat dir das angetan?« Er deutete auf Caryas blutige Knie unter den zerrissenen Strumpfhosen und auf ihre zerschrammten Hände und Arme.
Carya holte tief Luft. Der Moment der Wahrheit war gekommen. Sie hatte Angst davor, wie ihre Eltern reagieren würden. Aber sie musste sie einweihen, sonst würden die Diener des Tribunalpalasts völlig unerwartet in ihr Leben einbrechen.
Stockend begann sie zu beichten, was ihr heute seit dem verpassten Mittagessen widerfahren war. Dass ihr Gespräch mit Rajael auf dem Aureuswall, der Besuch bei Alesandru im Tribunalpalast, das Umkleiden in Rajaels Wohnung, der Prozess, die Schießerei, die Flucht und der Streit mit ihrer Freundin im nächtlichen Park zusammengenommen kaum mehr als zehn Stunden in Anspruch genommen hatten, ließ die Geschehnisse für Carya fast noch unwirklicher erscheinen.
Zunächst hörten ihre Eltern schweigend zu. Nur ihrer Mutter entfuhr ein mitfühlendes Seufzen, als Carya von Rajaels glückloser Liebe zu dem Invitro Tobyn und dessen Gefangennahme erzählte.Als Carya jedoch fortfuhr, sie sei daraufhin zum Tribunalpalast gelaufen, um sich von Alesandru eine Einladung zum Prozess zu erschleichen, platzte es aus ihrem Vater heraus: »Du hast was gemacht?«
»Ich musste es tun«, verteidigte sich Carya. »Ich konnte Rajael doch die Bitte, ihren Tobyn ein letztes Mal zu sehen, nicht abschlagen.«
»Carya, du weißt genau, dass solche Prozesse nichts für junge Mädchen sind!«, wetterte ihr Vater. »Es hat einen Grund, warum nur ausgewählte Gäste daran teilnehmen dürfen.«
Sie senkte den Kopf, schuldbewusst und niedergeschlagen zugleich. »Ja, das habe ich auch erkannt, als wir dort eintrafen.« Ein Anflug von Trotz regte sich in ihrem Inneren, und sie hob den Blick wieder, um ihren Vater herausfordernd anzuschauen. »Wusstest du, was dort vor sich geht? Dass dort Menschen zu Tode gefoltert werden?«
»Oh mein Gott … « Caryas Mutter schlug die Hand vor den Mund.
»Still!«, befahl ihr Vater ungehalten. »Kein Wort darüber. Die internen Untersuchungsmethoden der Inquisition haben uns nicht zu kümmern.«
»Interne Untersuchungsmethoden?«, echote Carya. »Vater, es waren Gäste anwesend! Es gibt dort Separees, wie in einem Theater, und Diener, die einem Getränke anbieten. Das ist ein Schauspiel für die Elite Arcadions – ein grausames, krankes Schauspiel. Das hat nichts mit Recht und Gerechtigkeit zu tun. Wie kannst du nur für solche Leute arbeiten?«
»Darüber bin ich dir keine Rechenschaft schuldig«, entgegnete ihr Vater laut. »Sei dankbar, dass ich Arbeit habe und dass es uns so gut geht. Außerdem bin ich nicht im Westflügel bei der Inquisition beschäftigt, wie du weißt, sondern bei der Abteilung für Eigentumsdelikte. Und überhaupt geht es gar nicht um mich, sondern um dich, junge Dame! Das war doch noch nicht alles, oder?«
Carya schüttelte den Kopf. »Nein. Es tut mir so leid, aber jetzt wird es erst richtig schlimm. Während wir dort im Prozess saßen und der Folter der Inquisitoren zusahen, zog Rajael plötzlich einen Revolver.«
»Oh nein«, entfuhr es ihrer Mutter. »Wo hatte sie den denn her?«
»Sie sagte, Tobyn habe ihn ihr gegeben. Ich schwöre, dass ich nichts davon gewusst habe, sonst hätte ich ihr nicht geholfen, in den Palast zu gelangen. Aber nun saß sie da und wollte Tobyn erschießen, um ihm die Qual des Verhörs zu ersparen. Doch als sie ihn dann brachten und auf den Stuhl schnallten und er die Fragen von Großinquisitor Aidalon nicht beantworten konnte oder wollte … «
Sie stockte. Plötzlich kehrten die Angst und das Entsetzen, die sie eine Weile durch ihren Zorn auf Rajael verdrängt hatte, mit aller Macht zurück. Sie sah das Bild vor ihrem inneren Auge aufsteigen, wie Inquisitor Loraldi Tobyn die Maske aufsetzte, wie er sein
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