Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
Unvermittelt und mit aller Macht kehrte die Erinnerung an die Ereignisse des Vorabends zurück. Charlotte war bereits aufgestanden. Am Licht, das durch einen kleinen Spalt zwischen den geschlossenen Vorhängen hereindrang, sah er, dass es schon vollständig hell sein musste, denn ein schmaler goldener Strich lief über den Fußboden. Von der Straße herauf hörte er Hufschlag und das Knarren von Wagenrädern.
Eilig stand er auf. Charlotte hatte ihm frische Kleidung herausgelegt. Vermutlich hatte sie die getragene gleich in die Waschküche gebracht, damit nicht das ganze Haus nach Rauch und Asche roch.
Er rasierte sich, zog sich an und war eine Viertelstunde später unten. Auch wenn sein Körper von den Anstrengungen des Vortages
schmerzte und seine Haut mehr Abschürfungen aufwies, als er zählen konnte, fühlte er sich ausgeruht, zumal die befürchteten Albträume ausgeblieben waren. Jetzt hatte er vor allem Hunger.
Die Wanduhr in der Küche zeigte neun Uhr. Charlotte, die das Frühstücksgeschirr abwusch, drehte sich mit einem Lächeln zu ihm um.
Gracie kam mit Eiern aus der Speisekammer und wünschte ihm einen guten Morgen. Er ließ zu, dass sich die beiden um sein leibliches Wohl kümmerten, doch weil er auf dem Tisch keine Zeitung sah, fragte er, was es Neues gebe.
»Die Sache von gestern Abend sieht sehr übel aus«, sagte Charlotte schließlich, nachdem er seine dritte Scheibe Marmeladenbrot gegessen hatte, und goss ihm Tee nach. Sie ging in die Speisekammer und kam mit drei Zeitungen zurück, die sie ihm auf den Tisch legte.
Als er die Schlagzeilen sah, war er froh, dass sie ihm das bis nach dem Frühstück vorenthalten hatte. Am vernichtendsten äußerte sich Denoon. Er kritisierte die Polizei nicht etwa, sondern erklärte, sie sehe sich einer unmöglichen Aufgabe gegenüber. Nicht einmal dann, wenn sie über mehr Personal, mehr und bessere Schusswaffen und die Vollmacht verfüge, Menschen bei dringendem Tatverdacht festzunehmen, dürfe man erwarten, dass sie imstande sei, solche Gräueltaten zu verhindern. Dafür brauche sie zusätzlich die Möglichkeit, sich Informationen zu beschaffen, bevor sich die Gewalttätigkeit zu solchen Extremen steigere. Sie müsse wissen, was für Menschen Mord und Zerstörung dieses Ausmaßes planten, Vorstellungen nährten, aus denen ein solcher Feldzug gegen die einfachen Bewohner Londons und höchstwahrscheinlich des ganzen Landes erwuchs.
Der kunstlos aufgebaute Leitartikel war ein einziger Aufschrei leidenschaftlicher Empörung, der sein Echo sicherlich in der Hälfte aller englischen Haushalte finden würde. Polizei, Staatsschutz und nicht einmal die Regierung, hieß es, könnten voraussagen, wo oder wann es zu einem weiteren grauenvollen Verbrechen dieser Art kommen könne, welche Häuserzeile als nächste
in Schutt und Asche gelegt würde, weit schlimmer als in der Myrdle Street.
Bei dem dortigen Anschlag war niemand ums Leben gekommen, weil die rechtzeitige Warnung es den Menschen ermöglicht hatte, ihre Häuser vorher zu verlassen. Diesmal hatte es solche Rücksicht nicht gegeben. Musste man als Nächstes mit noch Schlimmerem rechnen? Mit noch mehr Toten, einem Flächenbrand, der sich nicht eingrenzen ließ? Gegen sehr viel größere Brände sei die Feuerwehr mit ihren Mitteln machtlos. Sie habe weder genug Männer noch das nötige Material an Ort und Stelle, ja, nicht einmal genug Wasser. In einer solchen Situation könnten ganze Stadtviertel niederbrennen.
Um einer solchen entsetzlichen Verwüstung vorzubeugen, hieß es weiter, seien extreme Maßnahmen erforderlich. Man müsse der Regierung die Macht geben, die Bürger zu schützen, die sie gewählt hatten, denn darauf hätten diese einen Anspruch. Wenn dafür Gesetze erforderlich seien, müsse man diese erlassen, bevor es zu spät sei. Das sei nicht nur eine Frage von Ehre, Vaterlandsliebe und normalem menschlichen Anstand, das Überleben der Gesellschaft hänge davon ab.
Wohl hatte Pitt damit gerechnet, etwas in dieser Art zu lesen, doch als er es gedruckt vor sich sah, gewann es eine Wirklichkeit, der er sich, wie er sich eingestehen musste, nur ungern stellte.
Als er den Blick hob, merkte er, dass Charlotte ihn erwartungsvoll ansah.
»Das ist doch abstoßend, findest du nicht auch?«, fragte sie leise.
»Unbedingt.« In ihren Augen konnte er sehen, dass ihr das Ausmaß der Möglichkeiten ebenso bewusst war wie ihm.
»Was können wir tun?«
Er musste lächeln, weil sie sich mit eingeschlossen
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