Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Titel: Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
»Wie ist es, machen Sie mit?«
    Gerade als Yancy den Mund zu einer Antwort öffnete, hörte man ein hallendes Dröhnen. Es schien aus der übernächsten Straße zu kommen. Der Boden schwankte unter Pitts Füßen, Ziegel lösten sich vom Dach über ihm, glitten herab und zerschellten auf dem Pflaster. Wieder ertönte ein ohrenbetäubendes Dröhnen, Flammen schossen empor. Jemand schrie unaufhörlich. Dann überdeckte das Krachen einstürzenden Mauerwerks alle menschlichen Stimmen, und der Geruch und die Hitze von Feuer erfüllten die Dämmerung.

KAPITEL 8
    Ohne weiter auf Yancy zu achten, machte Pitt auf dem Absatz kehrt und eilte ans Ende der Straße, dem Feuerschein entgegen. Aus den wüst aufgerissenen Dächern stiegen Flammensäulen zum Himmel empor. Als er näher kam, biss ihn der Rauch in die Lunge. Menschen schrien und weinten. Manche standen da wie erstarrt, als seien sie so benommen oder verwirrt, dass sie nicht wussten, was sie tun sollten. Andere rannten ziellos umher oder stolperten hierhin und dorthin. Immer noch stürzte Schutt auf den Gehweg, fielen um die Menschen herum brennende oder verkohlte Holzstücke sowie Glassplitter zu Boden, scharf wie Dolche.
    Als Pitt das Ende der Scarborough Street erreichte, würgte ihn der Rauch im Hals, und die Hitze brannte in seinem Gesicht. Auf der Straße lagen Verletzte, in sich zusammengekrümmt wie ein Haufen Lumpen, die Glieder sonderbar verdreht. Manche regten sich nicht, sodass unklar war, ob sie noch lebten. Überall um sich herum sah Pitt Blut, Staub und Gesteinstrümmer, rauchendes Holz, Ziegel und Scherben. Menschen riefen, weinten, jemand schrie. Ein Hund bellte unaufhörlich. All das wurde übertönt vom Prasseln der Flammen, die aus den Resten der drei letzten Häuser schlugen. Die große Hitze ließ Holz zerbersten, und wie aus der Hand eines Messerwerfers geschleudert flogen Dachziegel durch die Luft, ihre Kanten scharf wie Klingen.
    Pitt blieb stehen und versuchte, das Entsetzen zu unterdrücken, das in ihm aufstieg, und Herr seiner Sinne zu bleiben.
Hatte schon jemand die Feuerwehr alarmiert? Brennende Holzstücke fielen bereits auf die Dächer der Häuser in der nächsten Straße. Was war mit Ärzten? War jemand in der Nähe, der Hilfe leisten konnte? Er eilte weiter, bemüht, festzustellen, ob es irgendeine Art von Ordnung in all dem Tohuwabohu und Entsetzen gab, das vom grellen Feuerschein hell beleuchtet wurde.
    »Hat jemand die Feuerwehr gerufen?«, überschrie er das Dröhnen und Krachen, mit dem eine weitere Mauer nachgab. »Die Leute müssen da raus!« Er nahm eine alte Frau am Arm und wies sie an: »Gehen Sie ans Ende der Straße, fort von der Hitze. Wenn Sie hier stehen bleiben, fallen Ihnen noch Trümmer auf den Kopf.«
    »Mein Mann is noch im Bett«, sagte sie mit ausdruckslosen Augen. »Er is betrunk’n nach Hause gekomm’n. Ich muss ’n da raushol’n. Sons’ verbrennt er.«
    »Sie können jetzt nichts für ihn tun.« Er ließ sie nicht los. Ein junger Mann stand mit bloßen Füßen wenige Schritte entfernt und zitterte am ganzen Leibe. »He!«, rief Pitt ihm zu. Er wandte sich langsam um. »Bringen Sie sie außer Gefahr«, forderte er ihn auf. »Die anderen auch. Helfen Sie mir.«
    Langsam öffnete und schloss der junge Mann die Augen. Er schien allmählich wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren und führte Pitts Anweisung aus. Auch andere fingen an zu reagieren, machten sich daran, Verletzte zu bergen, und brachten Kinder aus der unmittelbaren Gefahrenzone.
    Pitt trat zu der nächsten Gestalt am Boden und beugte sich über sie. Es war eine junge Frau mit von Blut verklebten Haaren, die halb auf dem Rücken lag, die Beine an den Knien eingeknickt. Ein einziger Blick auf ihr Gesicht genügte – hier kam jede Hilfe zu spät. Ihre Augen waren gebrochen. Während er neben ihr kniete, mischte sich in ihm ein Gefühl der Übelkeit mit unendlicher Wut. Die Leute müssten vom Staatsschutz erwarten können, dass er solche Tragödien verhinderte. Das hier hatte weder mit Idealismus noch dem Wunsch nach Reformen zu tun, war unverhüllter Wahnsinn, eine Unmenschlichkeit, die auf nichts als Dummheit und Hass zurückging.
    Einige Schritte weiter hörte er ein Stöhnen. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, sich seinen Gefühlen hinzugeben; damit würde er niemandem beistehen. Er erhob sich und ging zu der Frau hinüber, die gestöhnt hatte. Um sich vor der herüberwehenden glühenden Asche zu schützen, musste er die Augen schließen und

Weitere Kostenlose Bücher