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Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Titel: Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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den Kopf beiseite drehen. Wieder glitten Ziegel von den Dächern und prallten auf Gehweg und Straßenpflaster. Jetzt war er bei der Frau angelangt. Sie hatte ein gebrochenes Bein und eine blutende Armwunde. Vermutlich litt sie große Schmerzen, doch schien ihr vor allem das unaufhörlich fließende Blut Angst zu machen.
    »Das wird schon wieder«, sagte er mit Zuversicht in der Stimme. Mit einem Stück Stoff, das er aus ihrem Unterrock riss, legte er ihr einen Notverband an. Womöglich saß der zu fest, aber er musste unbedingt die Blutung zum Stillstand bringen. Sicherlich war inzwischen jemand unterwegs, um einen Arzt zu holen.
    »So.« Er erhob sich, bückte sich dann und half ihr, sich auf das unverletzte Bein zu stellen. Sie war schwer und nicht besonders beweglich; offensichtlich war sie nicht mehr die Jüngste. Es kostete ihn seine ganze Kraft, ihr Gewicht aufzufangen, und fast hätte er dabei das Gleichgewicht verloren. »Stützen Sie sich auf mich. Ich bringe Sie zur nächsten großen Straße«, sagte er.
    Sie dankte ihm, und sie machten sich auf den Weg. Als er sich abermals dem Ort des Unheils zuwandte, nachdem er die Frau in der Obhut einer Nachbarin gelassen hatte, erkannte er im Schein der Flammen Victor Narraways schlanke Gestalt. Die Haare standen ihm wild vom Kopf ab, sein von Ruß bedecktes Gesicht leuchtete im Feuerschein rot. Er wirkte mitgenommen.
    Pitt traute seinen Augen nicht. »Wie sind Sie denn so schnell hierher gekommen?« Er musste schreien, um den Lärm zu übertönen. »Wussten Sie etwa davon?«
    »Natürlich nicht, Sie Narr«, fuhr ihn Narraway an und kam näher auf ihn zu. »Ich bin Ihnen gefolgt.«
    »Wirklich?« Pitt konnte es kaum fassen. »Warum?«
    Ein weiteres Haus sank in sich zusammen, und mit lautem
Dröhnen schossen Flammen empor wie aus einem Vulkankrater. Beide wichen vor der Hitze zurück, die ihnen Haare und Gesichter versengte. Dabei stolperte Pitt über einen Balken und die Leiche eines Mannes. Hätte ihn Narraway nicht kräftig am Arm gefasst, er wäre zu Boden gestürzt. Nur mit Mühe kam er wieder auf die Beine.
    Die erste Feuerspritze traf ein. Die vorgespannten Pferde keuchten, und es kostete den Kutscher Mühe, sie zu bändigen. Ihr folgte sogleich eine zweite, doch erkannten die Feuerwehrmänner auf den ersten Blick, dass es sinnlos war, einen dieser Brände löschen zu wollen. Ihnen blieb lediglich die Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass das Feuer nicht auf die Gebäude in den benachbarten Straßen übergriff.
    Ein jüngerer Mann mit einer Tasche in der Hand bahnte sich seinen Weg durch die Trümmer, wobei er sich von Zeit zu Zeit bückte.
    Narraway rief etwas, was Pitt aber nicht hören konnte. Den Kopf schüttelnd ging er dorthin, wo sich der Mann, vermutlich ein Arzt, bemühte, jemandem auf die Beine zu helfen, der sehr schwer zu sein schien.
    Mehrere Male durchsuchten Pitt und Narraway gemeinsam die Trümmer nach Lebenden und zerrten dabei Balken und Teile des Mauerwerks auseinander. Narraway war kräftiger, als sein Körperbau vermuten ließ, und beide setzten ihre Tätigkeit fort, bis sie sicher waren, dass sie nichts mehr zu tun vermochten.
    Schließlich sanken die Flammen in sich zusammen, das Bersten und Klirren ertönte seltener. Inzwischen waren auch mehr Helfer eingetroffen, Fahrzeuge gekommen, um erst die Verletzten und dann die Toten abzutransportieren. Immer wieder sah Pitt, wie sich der Feuerschein auf blank polierten Uniformknöpfen oder in einem Polizeihelm spiegelte. Erst als er ein Stück beiseite getreten war und die Trümmerlandschaft musterte, fiel ihm auf, dass diese Insignien staatlicher Gewalt nicht mehr den beruhigenden Anblick boten wie noch vor wenigen Wochen.
    Er stand neben einem bis oben hin mit Trümmern beladenen
Fuhrwerk. Narraway, einige Schritte weiter auf der anderen Seite, hielt ihm wortlos einen Blechbecher mit Wasser hin. Pitt wollte etwas sagen, doch kamen keine Laute aus seiner Kehle. Er nahm den Becher und trank. Dann brachte er ein »Danke« heraus.
    Inzwischen war es vollständig dunkel geworden. Nur noch in zweien der Häuser sah man den roten Widerschein der niedergebrannten Feuer. Die Feuerwehr hatte die Dächer der umliegenden Gebäude mit reichlich Wasser getränkt, damit die Flammen dort keine Nahrung fanden.
    Narraway nahm den Becher wieder an sich und hob ihn an die Lippen. Verblüfft sah Pitt, dass seine mit Blut und Asche bedeckte Hand dabei zitterte. Zum ersten Mal erkannte er in Narraways Augen Angst,

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