Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
hatte. »Ich gehe noch einmal zu den festgenommenen Anarchisten, um ihnen ein paar Fragen zu stellen, obwohl ich nicht glaube, dass sie uns weiterhelfen können«, sagte er. »Eigentlich bin ich überzeugt, dass keiner aus ihrer Gruppe für diesen Anschlag verantwortlich ist. Vielleicht sind sie aber eher bereit zu reden, wenn sie
erfahren, dass diesmal mindestens fünf Menschenleben zu beklagen sind. Du unternimmst bitte nichts, außer vielleicht Emily ein wenig beizustehen.« Er sah sie aufmerksam an. »Jack ist einer unserer wenigen zuverlässigen Verbündeten im Kampf gegen die umfassenden Polizeivollmachten. Es kann ihn teuer zu stehen kommen.«
»Meinst du, in Bezug auf seine Karriere?«, fragte sie.
»Möglich ist alles.«
Sie lächelte trübselig. »Danke, dass du es nicht herunterspielst. Ich hätte es ohnehin nicht geglaubt.«
Er stand auf, gab ihr einen flüchtigen Kuss und ging zur Haustür, um sich die Schuhe anzuziehen. Ihm war bewusst, dass sie in der Küche stand und ihm nachsah.
Als Ersten suchte er Carmody auf, der rastlos in seiner Zelle auf und ab ging. Allem Anschein nach war er innerlich so unruhig, dass er sich nicht setzen konnte. Als er hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss der schweren Stahltür drehte, fuhr er herum, um zu sehen, wer da kam. Seine Haare waren verfilzt, und sein sommersprossiges bleiches Gesicht wirkte nahezu grau.
»Wer hat das getan?«, stieß er in anklagendem Ton hervor. »Das ist Mord! Warum sind Sie den Leuten nicht in den Arm gefallen? Was ist mit Ihnen los? Wer steckt hinter dem Anschlag? Die Iren, die Russen, die Polen oder die Spanier?«
»Vermutlich keiner von all denen«, sagte Pitt so gelassen er konnte. »Woher wissen Sie überhaupt, was passiert ist?«
»Hier reden alle darüber«, rief Carmody aus. »Die Wärter zählen die Stunden, bis mein Freund und ich verurteilt und gehängt werden. Mit uns hat das aber nichts zu tun. Wir haben es Ihnen doch gesagt: Wir wollten der Korruption bei der Polizei ein Ende bereiten, hatten es nur auf den verdammten Grover abgesehen, aber nicht im Traum die Absicht, die Bewohner eines ganzen Straßenzuges umzubringen.«
»Alles weist darauf hin, dass es sich nicht um ausländische Anarchisten handelt«, sagte Pitt.
»Wir … waren … es … nicht!«, schrie ihm Carmody mit zitternder Stimme entgegen. »Hören Sie eigentlich nicht, was ich sage? So ein bestialisches Vorgehen, das der Freiheit, der Ehre und der Menschenwürde Hohn spricht, passt weder zu unseren Zielen noch zu unseren Methoden. Es ist blanker Mord – und wir sind keine Mörder.«
Zwar glaubte Pitt ihm, war aber noch nicht bereit, das zu sagen.
»Magnus Landsborough ist tot«, gab er zu bedenken und lehnte sich an die Mauer. »Sie und Welling befinden sich in Haft. Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, dass der Zweck des Anschlags in der Myrdle Street darin bestanden haben könnte, Sie drei aus dem Weg zu schaffen?«
Carmody setzte zu sprechen an, sagte aber nichts. Der letzte Blutstropfen wich aus seinem Gesicht. »Großer Gott!«, entfuhr es ihm. »Sie meinen … Nein!« Den Kopf schüttelnd wiederholte er das letzte Wort immer wieder, wohl, um sich selbst zu überzeugen. Er ließ Pitt keine Sekunde aus den Augen.
»Warum nicht?«, fragte ihn dieser. »Vielleicht hatte jemand in Ihrer Gruppe andere Pläne als Sie, gewalttätigere. Es scheint ja unübersehbar jemanden zu geben, der auf Biegen und Brechen eine Entscheidung sucht!«
»Nein!« Doch das war nichts als ein leeres Wort. Carmody begriff, und während die Sekunden verstrichen, ging ihm immer mehr auf, dass Pitts Theorie einen Sinn ergab. Unvermittelt setzte er sich auf seine Pritsche, als hätten die Beine unter ihm nachgegeben.
»Jemand, den Sie kennen, hat Magnus erschossen«, fuhr Pitt leise, aber mit Nachdruck fort. »Wer auch immer das war, wusste, wohin Sie sich nach der Detonation des Sprengsatzes in der Myrdle Street flüchten würden. Dort hat er auf Sie gewartet, Magnus getötet und ist dann durch die Hintertür entkommen, vorbei an den Polizeibeamten, die vermuteten, es sei einer unserer Männer, der einen von Ihnen verfolgte. Ein solches Vorgehen setzt nicht nur Intelligenz, gründliche Planung und eine sorgfältige
Ausführung voraus, sondern auch die Kenntnis der Absichten Ihrer Gruppe. Welchen anderen Grund hätte einer von Ihnen haben können, Magnus’ Tod zu wünschen, als den, an dessen Stelle selbst Anführer zu werden?«
Carmody fuhr sich mit beiden Händen
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