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Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Titel: Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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die aber nichts mit ihm selbst zu tun hatte. Auch wenn er kein tollkühner Draufgänger war, hatte er ohne das geringste Zögern in unmittelbarer Nähe der einstürzenden Mauern geholfen, Menschen zu retten. Angst und Sorge bereitete ihm nun außer der ausufernden Gewalttätigkeit vermutlich die Reaktion, die auf diesen zerstörerischen Akt folgen würde. Immerhin war dem Anschlag fast der ganze Straßenzug zum Opfer gefallen. Keins der Häuser war mehr bewohnbar oder würde sich instand setzen lassen. Hier gab es nur noch eines: die Trümmer beiseite räumen und alles neu aufbauen.
    Weit schlimmer aber war, dass mindestens fünf Menschen ihr Leben eingebüßt hatten und weitere zwanzig verletzt worden waren, wenn nicht gar mehr, einige davon lebensgefährlich. Diesmal hatte es keine Warnung gegeben, und allem Anschein nach war mindestens dreimal so viel Dynamit eingesetzt worden wie in der Myrdle Street. Der Staatsschutz hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wer die Täter sein konnten.
    Pitt sah, dass der von Kopf bis Fuß mit Schmutz bedeckte Narraway erschöpft wirkte. Zweifellos war dessen Haut ebenso versengt wie seine eigene, schmerzte seine Lunge mit jedem Atemzug, dröhnte ihm der Kopf und brannten seine Glieder ebenso sehr wie die Pitts. Vor allem aber dürfte er wohl das allumfassende und quälende Bewusstsein empfinden, eine Niederlage
erlitten zu haben. Ganz davon zu schweigen, dass es ihm nicht gelungen war, dies Vorkommnis zu verhindern, wie das vom Staatsschutz erwartet wurde, hatten sie weder einen der Täter zu fassen bekommen, noch besaßen sie Hinweise auf die Täter oder auch nur eine Fährte, der sie folgen könnten. Sie hatten nicht den geringsten Ansatzpunkt, nichts, worauf sich die hoffnungsvolle Aussage stützen ließe, so etwas werde sich nicht wiederholen. Es konnte ganz im Gegenteil jederzeit aufs Neue dazu kommen, sooft den Anarchisten der Sinn danach stand.
    Narraway erwiderte seinen Blick. Beide hätten gern etwas gesagt, aber die Wahrheit brauchte keine Worte, und tröstliche Lügen waren ebenso sinnlos wie töricht.
    Narraway nahm noch einen Schluck Wasser und gab Pitt den Becher erneut. Er leerte ihn.
    »Gehen Sie nach Hause«, sagte er zu Pitt, nachdem er sich geräuspert hatte. »Hier kann heute Abend niemand mehr etwas tun.«
    Pitt, der ebenso wenig gewusst hätte, was sich am nächsten Tag tun ließe, drängte es, in die Sicherheit der Keppel Street zurückzukehren. Mit einem Mal empfand er tiefes Mitgefühl für Narraway, der keinen solchen Hort häuslicher Behaglichkeit hatte, niemanden, der ihn bedingungslos liebte und ihm Sicherheit gab. Auf keinen Fall durfte er ihn spüren lassen, dass ihm das bewusst war. »Danke«, sagte er. »Gute Nacht.«
    Ihm war gar nicht aufgefallen, dass es schon so spät war. Als er kurz vor Mitternacht die Haustür aufschloss, kam Charlotte sogleich vollständig angekleidet aus dem erleuchteten Wohnzimmer in den Flur.
    »Mir fehlt nichts!«, sagte er ein wenig zu laut, als er das Entsetzen auf ihrem Gesicht erkannte. »Ich muss mich nur waschen, dann sind alle Spuren beseitigt.«
    »Thomas! Was …«, stieß sie mit vor Schreck geweiteten Augen hervor. Fast alles Blut war aus ihren Wangen gewichen. »Was ist passiert?«
    »Wieder ein Sprengstoffanschlag«, gab er zur Antwort. Er
hätte sie gern in die Arme genommen, doch damit hätte er nicht nur ihr Kleid beschmutzt, sondern auch den durchdringenden Brandgeruch weitergegeben.
    Ohne darauf zu achten, schlang sie die Arme um ihn, hielt ihn fest an sich gedrückt und küsste ihn. Dann legte sie den Kopf an seine Schulter und hielt ihn fest, als könne er ihr davonlaufen, sobald sie ihn losließ.
    Unwillkürlich musste er lächeln. Er berührte sie sanft und freute sich, in der Sicherheit seines Hauses zu sein, sie in seinen Armen zu halten. Ihre Haare hatten sich gelöst. Er zog die wenigen Nadeln heraus, die noch an Ort und Stelle waren, und ließ sie achtlos fallen. Mit den Fingern strich er ihr über das jetzt schulterlange Haar und genoss dessen kühle Weichheit – wie lose fallende Seide. Es war so glatt, dass man an eine Flüssigkeit hätte denken können, und es roch angenehm. Fast war es, als habe er sich den Großbrand, die Trümmer und das viele Blut nur eingebildet.
    Er bedauerte Narraway und hätte, wenn er an ihn gedacht hätte, sogar Voisey bedauert.

    Am nächsten Morgen fuhr Pitt aus dem Schlaf hoch. Die Stille des Schlafzimmers dröhnte ihm förmlich in den Ohren.

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