Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman

Titel: Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
als reizende und ausgesprochen selbstständige Persönlichkeit in Erinnerung.«
    Auf seinen Zügen lag eine ungewohnte Herzlichkeit. Trotz seiner Müdigkeit und obwohl er nach wie vor den Grund von Charlottes Besuch nicht kannte, schien er nachgiebig. »Es geht ihr gut, vielen Dank. Warum fragen Sie, Mrs Pitt? Sie sind doch bestimmt nicht ausgerechnet jetzt gekommen, um sich nach meinem oder ihrem Befinden zu erkundigen?«
    Sie lächelte. Offenbar war es ihr gelungen, ihn ein ganz klein wenig aus der Reserve zu locken.
    »Mittelbar vielleicht schon«, sagte sie. »Ich habe mich nicht ganz grundlos nach ihr erkundigt.«
    »Ach wirklich?« Er wirkte skeptisch.
    »Es freut mich sehr, dass es ihr gut geht«, fuhr sie fort. »Hoffentlich ist sie glücklich?«
    Seine Verärgerung nahm zu.
    Ihr Lächeln verschwand. »Der Zweck meines Kommens, Sir Charles, besteht darin, Ihnen klar zu machen, dass das Wohlergehen Ihrer Schwester unlösbar mit dem meines Mannes verknüpft ist. Gewiss ist es nicht unbedingt vornehm, Ihnen das so deutlich zu sagen, aber ich habe den Eindruck, dass Sie allmählich ungeduldig werden.« Sie sah die Überraschung auf seinem Gesicht, merkte, dass er noch nicht verstanden hatte. »Sicherlich haben Sie den armen Reverend Wray nicht vergessen? Ein wirklich guter Mensch, den viele geliebt haben.« Sie sah ihm fest in die Augen. Sie machten einander jetzt nichts mehr vor. »Sein Tod war eine Tragödie«, fuhr sie fort. »Was Mrs Cavendish angeht, kann ich mir vorstellen, dass sie den Vermerk ›Unfall‹ auf dem Totenschein für zutreffend hält, und zumindest moralisch ist er das auch. Sie hatte nicht die Absicht, ihn zu vergiften. Dennoch gibt es Beweise dafür, dass sie de jure wie de facto die Täterin war, von denen selbstredend Kopien existieren. Es wäre äußerst unklug, wenn es von diesen Dokumenten nur ein Exemplar gäbe. Sie alle bleiben unter Verschluss, solange meinem Mann und natürlich auch allen anderen Angehörigen meiner Familie nichts geschieht. Dazu zähle ich auch unser Hausmädchen Gracie. Sollte einem von ihnen etwas zustoßen, wird das Beweismaterial in die Hände der zuständigen Stellen gelangen, auch wenn die Sache so aussieht, als handele es sich dabei um einen Unfall. Diese Stellen werden mit Sicherheit dafür sorgen, das dem Gesetz Genüge getan wird.«
    Er sah sie verblüfft an.
    »Glauben Sie nur nicht, dass ich keinen Gebrauch davon
machen würde. Ich hege Mrs Cavendish gegenüber keinerlei Rachegefühle und halte es sogar für mehr als wahrscheinlich, dass sie Mr Wray nicht absichtlich vergiftet hat. Doch es dürfte schwierig, wenn nicht gar unmöglich sein, das in einer Gerichtsverhandlung zu beweisen. Als Ergebnis käme sie dann natürlich an den Galgen.« Sie benutzte das Wort mit voller Absicht, und sie sah, dass sein Gesicht jede Farbe verlor.
    »Das Wohl meiner Angehörigen liegt mir ebenso am Herzen wie Ihnen das der Ihren, Sir Charles. Ich würde das Material ohne das geringste Zögern verwenden, wenn durch Sie oder auf Ihre Veranlassung meinem Mann oder einem anderen Familienmitglied etwas zustoßen sollte.« Sie hielt seinem Blick ohne das leiseste Wimpernzucken stand.
    Lange lastete Schweigen zwischen ihnen; es wirkte gefährlich.
    Sie sah nicht beiseite.
    »Das glaube ich nicht, Mrs Pitt«, sagte er schließlich.
    »Sie irren sich!« Sie legte all ihre Leidenschaft und Gewissheit in ihre Stimme. »Ich werde es tun.«
    Sein Lächeln war kaum wahrnehmbar, wie der Schimmer eines Sonnenaufgangs auf einem Gletscher. »Sofern ich Ihrem Gatten etwas antäte und Sie meine Schwester vernichteten – was könnte dann Sie und Ihre Kinder noch schützen? Sie werden sich aber auf jeden Fall schützen wollen, weil die Kinder auf Sie angewiesen sind.«
    Alles in ihr erstarrte. Sie war wie gelähmt.
    »Möglich, dass Sie übereilt gesprochen haben, Mrs Pitt«, sagte er leise. »Aber Sie sind nicht dumm. Sie werden tun, was Sie tun müssen, um Ihre Kinder zu schützen. Ebenso wenig wie an Ihrem Mut oder Ihrer Entschlossenheit zweifle ich keine Sekunde lang an Ihrem Realitätssinn. Sie werden meiner Schwester auf keinen Fall etwas antun, solange es jemanden gibt, den Sie schützen müssen.« Er neigte den Kopf ganz leicht. »Darf ich Sie zur Tür bringen? Vielleicht kann Ihnen mein Diener eine Droschke rufen?«
    Alles verschwamm in ihrem Kopf. Er hatte Recht, und beide
wussten das. Es wäre töricht gewesen, gegen seine Worte zu argumentieren. Doch sie musste ihm antworten,

Weitere Kostenlose Bücher