Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
musste etwas sagen. Ganz davon abgesehen hatte sie das Bedürfnis, sich zu bewegen.
»Nein, vielen Dank. Ich kann das selbst tun, wenn ich eine möchte.« Sollte sie hinzufügen, dass es Abstufungen bei den Möglichkeiten gab, einem Menschen zu schaden? Gerüchte, die schmerzen konnten, ohne zu töten? Oder würde er sich daraufhin seinerseits etwas überlegen, womit er Pitt, Daniel oder Jemima schaden könnte. Oder gar Tellman?
Er wartete.
Nein. Es war besser, nichts zu sagen. Sie wandte sich um und verließ den Raum. Er folgte ihr in zwei Schritten Abstand. Es wäre lächerlich gewesen, einander Auf Wiedersehen zu sagen.
An der Haustür trat sie auf die im Sonnenschein liegende Straße, ohne sich umzusehen, und ging rasch davon.
Zehn Minuten später sah sie eine Droschke und ließ sich zu Tante Vespasia fahren. Sie zitterte, wenn sie an ihren Besuch bei Voisey dachte, von dem sie Pitt nie etwas sagen würde. Es gab ganz wenige Dinge, die man mit Rücksicht auf den anderen besser für sich behielt. Das zu lernen war Teil des Erwachsenwerdens.
Vor Vespasias Haus stieg sie aus und entlohnte den Kutscher. Falls Vespasia nicht da war, würde sie auf ihre Rückkehr warten.
Sie hatte Glück. Nicht nur war sie im Hause, sie war auch entzückt, sie zu sehen. Als sie einander im Salon, der auf den Garten ging, gegenübersaßen und das Mädchen hinausgegangen war, sah Vespasia sie besorgt an.
»Du bist ja ganz blass, meine Liebe. Ist etwas geschehen?«
Charlotte war nicht bereit, ihr etwas über den Besuch bei Voisey zu sagen. Sie hatte Angst. Der Mann hatte ihr den Schutzschild, auf den sie sich verlassen hatte, in der Hand zerschlagen. Sie fühlte sich jetzt nicht nur verletzlich, sondern kam sich auch töricht vor. Weder hatte sie das Entsetzen verarbeitet, noch hatte sie sich überlegt, wie sie damit fertig werden sollte. Es würde
genügen, Vespasia über Pitts Abenteuer auf der Josephine zu berichten, und das tat sie so ausführlich, wie sie konnte.
»Und Thomas geht es gut?«, erkundigte sich Vespasia besorgt.
»Vielleicht bekommt er eine Erkältung«, gab Charlotte zur Antwort, »und bestimmt wird ihm die Sache eine Zeit lang Albträume bereiten, aber wenigstens ist er mit heiler Haut davongekommen. Übrigens zum Glück auch Voisey, denn wir brauchen ihn nach wie vor.« Sie hoffte, dass ihre Stimme nicht zitterte, als sie den Namen sagte. »Soweit ich weiß, ist für heute Nachmittag im Unterhaus eine weitere Lesung des Gesetzentwurfs vorgesehen. Nach dem Anschlag in der Scarborough Street darf er sicherlich mit breiter Unterstützung rechnen.«
»Ich fürchte, damit hast du Recht«, sagte Vespasia finster. »Das Günstigste, was wir annehmen können, ist, dass die Umstände Mr Wetron in außergewöhnlicher Weise favorisieren.«
»Das Günstigste? Die Dinge stehen meiner Ansicht nach ziemlich schlimm.«
Vespasia sah sie unverwandt an. »Meine Liebe, das Schlimme an der Sache ist, dass all diese Dinge auf sein Betreiben geschehen sind. Daher ist er jemand, den man sehr fürchten muss. Von einem Mann, der nicht davor zurückschreckt, einen ganzen Straßenzug mitsamt den darin lebenden Menschen in die Luft zu sprengen, muss man annehmen, dass er keinerlei Hemmungen kennt. Er ist bereit, bedenkenlos zu töten – nicht nur seine Gegner, sondern auch gewöhnliche Männer und Frauen, deren einzige Verbindung zu seinem Ehrgeiz darin besteht, dass ihr Tod seinen Zielen dienlich ist. Der Himmel gebe, dass Thomas die Beziehung zwischen Wetron und dem Lastkahn mit dem darauf befindlichen Dynamit nachweisen kann.« Ihrer Stimme war anzuhören, dass ihr die Sache nahe ging. Zwar saß sie wie immer sehr aufrecht, war aber erkennbar angespannt.
»Ich habe in den vergangenen ein, zwei Tagen nicht mit Thomas gesprochen«, fuhr sie fort. »Hat er schon eine Spur, die zum Mörder von Magnus Landsborough führen könnte?« Sie fragte
das, als sei es nur am Rande von Bedeutung, doch sah Charlotte, dass sie die Hände in ihrem Schoß zu Fäusten geballt hatte.
Mitleid und Schuldgefühl erfassten sie, als sie begriff, dass Vespasia diese Sache sehr nahe ging. Beinahe hatte sie vergessen, dass Magnus der einzige Sohn eines ihrer guten Freunde war, eines Mannes, der ihr in jungen und vielleicht auch in späteren, weniger glücklichen Jahren sehr nahe gestanden hatte.
»Nein«, sagte sie leise. »Allerdings hat ihn die Beweislage zu der Überzeugung gebracht, dass es jemand gewesen sein muss, der Magnus gut gekannt hat –
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