Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
unterging und er vom Gewicht des Wassers mit in die Tiefe gerissen wurde. Er bekam die gezackte Kante zu fassen und hielt sich daran fest. Sie ragte kaum einen halben Meter über das Wasser hinaus. Jeden Augenblick konnte es zu spät sein.
Er ließ nicht los, spürte die Luft auf seinem Gesicht, sah die Lichter über dem Fluss und am Himmel. Er drehte sich um, ergriff Voiseys Hand und zog mit aller Kraft.
Voiseys Kopf tauchte in dem Augenblick aus dem Wasser auf, als die Josephine endgültig verschwand. Jetzt mussten sie noch die Anlegertreppe erreichen, durchgefroren, aber frei.
KAPITEL 9
Charlotte sah ihren Mann sorgenvoll an, der am ganzen Leibe zitternd in Nachthemd und Morgenmantel vor dem Küchenherd saß und heißen Tee trank. Wie gut das tat! Die Droschkenfahrt in nassen Kleidern war ihm endlos vorgekommen, als seien es bis zur Keppel Street nicht acht, sondern dreißig Kilometer.
Voisey und er hatten nicht viel miteinander geredet, nachdem sie über die Anlegertreppe den Kai erreicht hatten. Was hätten sie auch sagen sollen? Alles war klar. Ganz gleich, ob das Dynamit nun Simbister oder einem anderen gehörte, der für ihn arbeitete – auf jeden Fall hatte jemand sie aus dem Weg räumen wollen, was beinahe auch gelungen wäre.
Pitt war vor seinem Haus in der Keppel Street ausgestiegen und Voisey zur Curzon Street weitergefahren, wo er wohnte. Charlotte, die Pitts Rückkehr voll Unruhe erwartet hatte, war bei seinem Anblick aschfahl geworden. Er hatte ihr den Vorfall in groben Zügen berichtet. Das Geschehene vor ihr geheim zu halten wäre völlig unmöglich gewesen, ganz davon abgesehen, dass er das auch nicht gewollt hätte. Bis in seine Träume würde ihn die Finsternis im Laderaum verfolgen, das Gefühl der Hilflosigkeit, das ihn befallen hatte, als der Lastkahn zu sinken begann. Nie im Leben würde er das Geräusch des Wassers vergessen, das sie auf allen Seiten zu umschließen schien. Er würde nachts aufwachen und dankbar sein, einen noch so winzigen Lichtschimmer zu sehen, den Schein der Straßenlaterne durch
die Vorhänge, was auch immer. Jetzt hatte er eine völlig neue und entsetzliche Vorstellung davon, wie sich ein Blinder fühlen musste oder ein Mensch, der angegriffen wurde, ohne zu ahnen, aus welcher Richtung die Attacke kam.
»Bist du sicher, dass Voisey nichts mit der Sache zu tun hat?«, fragte Charlotte zum dritten Mal.
»Niemand ist ihm so wichtig, dass er bereit wäre, für ihn zu sterben«, sagte Pitt voll Überzeugung.
Sie erhob keine Einwände. »Schön«, räumte sie ein. »Diesmal war er es nicht. Aber wie soll das weitergehen? Ihr habt keine Beweise für die Existenz des Dynamits, denn das liegt auf dem Grund der Themse.«
Er lächelte. »Da scheint es mir auch durchaus sicher zu sein. Findest du nicht?«
»Ja, aber was ist mit dem Beweis?«, beharrte sie.
»Sir Charles Voisey ist Unterhausabgeordneter und allgemein als Held bekannt. Ich denke, man wird seiner Aussage Glauben schenken. Und die Unterlagen, aus denen hervorgeht, dass Simbister Eigner der Josephine ist, existieren nach wie vor.«
»Kannst du denn damit etwas beweisen, was dazu beitragen könnte, das Gesetz zu verhindern?«, fragte sie. »Eine weitere Ladung Sprengstoff verweist doch wieder nur auf die Anarchisten, womit Tanqueray noch mehr Wasser auf seine Mühlen bekommt.«
»Wenn ich mit dem Beweis, dass Simbister Eigner des Lastkahns ist, zu Somerset Carlisle gehe und ihm die Zusammenhänge zwischen dem Dynamit, Grover und Taschen-Jones erzähle, genügt das möglicherweise, um den einen oder anderen Abgeordneten in seiner Haltung schwankend werden zu lassen«, sagte Pitt nachdenklich. In der Wärme der Küche spürte er mit einem Mal, wie ihn eine große Müdigkeit überfiel. Die Erschöpfung schien seinen ganzen Körper zu erfassen, und er konnte nicht mehr klar denken.
»Jedenfalls solltest du Voisey auf keinen Fall trauen«, sagte sie eindringlich. »Er kann dich immer noch hintergehen.« Sie beugte sich vor und legte ihre Hände auf die seinen.
»Es ist gar nicht nötig, dass ich ihm traue«, erklärte er. »Wir
beide arbeiten auf dasselbe Ziel hin: das Gesetz zu verhindern, das der Polizei zusätzliche Vollmachten gibt. Dass wir dafür unterschiedliche Gründe haben, ist unerheblich.« Er gähnte ausgiebig. »Entschuldigung.«
Sie kniete sich vor ihn und sah ihm ins Gesicht. »Du musst zu Bett, du brauchst Wärme.« In ihrer Stimme lag tiefe Rührung. »Ich kann Gott nicht genug dafür
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