Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
danken, dass du in Sicherheit bist. Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie knapp du dem Tod entgangen bist. Hast du eigentlich immer noch den Beweis für die Beteiligung von Voiseys Schwester an der Ermordung von Reverend Wray? Könntest du die Frau, wenn es nötig wäre, dafür vor Gericht bringen?«
»Nein.« Es kostete ihn große Mühe, klare Gedanken zu fassen. Er sah auf ihr besorgtes Gesicht, so dicht vor dem seinen, ihr weiches Haar, ihre Augen. Er spürte die Wärme ihrer Haut und nahm einen leichten Duft nach Lavendel und Seife wahr, merkte, wie ihn seine Empfindungen überwältigten. All das hätte er um ein Haar verloren. Dieser Raum, in dem es nach frischem Leinen und Essen roch, das vertraute Geschirr auf der Anrichte, der blank gescheuerte Tisch, war sein Heim. Vor allem aber hätte er sie verloren.
»Warum nicht?«, fragte Charlotte. Er hörte die Angst in ihrer Stimme. »Stimmt mit den Beweisen etwas nicht? Damals hast du gesagt, alles sei hieb-und stichfest.«
»Das ist es auch.« Die Augen fielen ihm zu. Er konnte sie kaum noch offen halten, es kostete ihn größte Mühe, wach zu bleiben. »Trotzdem gäbe es keine Möglichkeit, sie vor Gericht zu bringen, denn ich bin nicht überzeugt, dass ihr bewusst war, was sie tat. Vermutlich wusste sie nicht, dass der alte Mann mit den Himbeertörtchen vergiftet werden sollte, die sie ihm gebracht hatte.«
»Das heißt, du würdest sie nicht vor Gericht bringen, könntest es aber!« Sie bemühte sich, die Beherrschung nicht zu verlieren. »Das Beweismaterial ist ausreichend. Immerhin hat sie ihm das Gift verabreicht.«
»Ich glaube nicht, dass ihr das bewusst war.« Die Augen wollten ihm immer wieder zufallen.
Sie richtete sich auf. »Das ist belanglos. Wo ist es?«
»Was? Wo ist … ach so.« Er begriff, dass sie das Beweismaterial meinte. »In der Schlafzimmerkommode. Da ist es absolut sicher. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde Voisey weder sagen, wo es sich befindet, noch, dass ich davon keinen Gebrauch zu machen beabsichtige.« Wenn er es sich recht überlegte, musste ihm klar sein, dass sich Voisey das denken konnte – aber sicher durfte er sich dessen nicht sein.
»Geh jetzt zu Bett«, sagte sie liebevoll. »Es ist heute Abend nicht wichtig. Komm.« Sie hielt ihm die Hände hin, als wolle sie ihn hochziehen.
Mit großer Mühe stand er auf. Jetzt war ihm wieder warm, und die Vorstellung, zu Bett zu gehen, schien ihm ausgesprochen verlockend.
Am nächsten Morgen verließ Pitt das Haus deutlich später als sonst. Erst gegen halb zehn war er aufgewacht. Nachdem er sich gewaschen und angezogen und in größter Eile gefrühstückt hatte, machte er sich um zehn Minuten nach zehn auf den Weg. Er wollte den Beweis dafür in die Hände bekommen, dass die Josephine Simbister gehörte.
Kaum war er gegangen, als auch Charlotte das Haus verließ, allerdings in die Gegenrichtung. Sie nahm eine Droschke und nannte dem Kutscher Voiseys Adresse in der Curzon Street. Hoffentlich war er noch nicht ins Unterhaus gegangen. Da sie wusste, dass das Parlament erst am Nachmittag zusammentreten würde, sprach eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dass er noch zu Hause war, zumal sie annahm, dass auch ihn die Ereignisse des Vorabends so erschöpft hatten wie Pitt und sie. Natürlich war es trotzdem möglich, dass er schon aufgebrochen war, in der Hoffnung, noch vor der Unterhaussitzung mit einigen Abgeordneten reden zu können, doch auch die dürften eher später kommen. Es war erst Viertel vor elf, und früher hatte sie nicht aus dem Haus gehen können.
Als ihr der Diener öffnete, bemühte sie sich um Gefasstheit.
Sie wollte Voisey unbedingt scheinbar gelassen gegenübertreten, doch schlug ihr das Herz bis zum Hals.
»Guten Morgen, meine Dame«, sagte der Mann höflich. Er ließ sich nicht anmerken, wie sehr ihn ihr unangemeldetes Erscheinen überraschte.
»Guten Morgen«, gab sie zurück. »Ich bin Mrs Pitt. Sir Charles kennt meinen Mann ziemlich gut. Beide waren gestern Abend mit einer äußerst wichtigen Angelegenheit beschäftigt, die sich zum Schluss sogar als höchst gefährlich herausgestellt hat. Sicher ist auch Sir Charles ziemlich erschöpft und durchgefroren nach Hause gekommen.« Sie sagte das, um dem Diener zu zeigen, dass sie die Wahrheit sagte. »Die Dinge haben sich so entwickelt, dass ich, sofern das möglich ist, unbedingt mit ihm sprechen muss, bevor er ins Unterhaus geht. Ich hoffe, ich bin nicht zu spät gekommen.«
Auf den Zügen
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