Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
vermutlich also einer der anderen Anarchisten. Mir scheint unverständlich, wie Menschen, die im Grunde für dieselbe Sache kämpfen, so etwas tun können.«
Vespasia schwieg.
Charlotte sah auf das feine Gesicht mit den hohen Wangenknochen und erkannte die Angst in ihren Augen. Wäre es zudringlich, sie zu fragen, oder herzlos, es nicht zu tun? Wenn sie schon etwas Falsches tat, dann lieber aus Mitgefühl als aus Feigheit.
»Fürchtest du, es könnte jemand aus seiner Familie gewesen sein?«, fragte sie.
Vespasia sah sie aufmerksam an. Sie schien noch bleicher als zuvor. »Denkt Thomas das?«
Es war sinnlos, falschen Trost zu spenden. Hier half nur Ehrlichkeit. »Gesagt hat er das nicht. Aber es muss jemand gewesen sein, dem bekannt war, dass die Leute das Haus in der Long Spoon Lane benutzten, weil er dort gewartet hat. Außerdem hat er nur Magnus erschossen, obwohl er ohne Weiteres alle drei Anarchisten hätte töten können.«
Vespasia sah beiseite. »Genau das ist meine Sorge: dass es nicht um einen Machtkampf innerhalb der Anarchistengruppe ging, sondern ein persönliches Motiv dahinter stand, kein politisches.«
Eine Annahme drängte sich auf. Es wäre unredlich gewesen, sie nicht anzusprechen. »Hätte es sein Vater sein können?«, fragte Charlotte fast im Flüsterton. Beide verstanden, was einen Mann dazu veranlassen konnte, so etwas zu tun: Angst vor dem Makel
auf der Familienehre und das Bewusstsein, dass die Gewalttätigkeit beim nächsten und übernächsten Mal nur noch schlimmere Ausmaße annehmen würde.
»Ich weiß nicht recht«, gab Vespasia zu. »Es ist … ein grauenvoller Gedanke. Doch wenn ich ein Mann wäre und mein Sohn plante, Häuser mitsamt ihren Bewohnern mit Dynamit in die Luft zu sprengen, würde ich es für meine Pflicht halten, ihm in den Arm zu fallen. Ich weiß nicht, was ich tun würde. Das Bewusstsein dessen, was man zu tun hat, und eine solche entsetzliche Tat sind zweierlei, und es ist ein weiter Weg vom einen zum anderen.« Ein Schatten legte sich auf ihre Züge. »Meine Kinder haben sich wiederholt gegen mich gestellt, und auch ich war nicht immer ihrer Meinung und habe so manches missbilligt, wovon sie überzeugt waren. Doch auch wenn wir oft unterschiedlicher Ansicht waren, musste ich nie befürchten, dass sie Mordgedanken hegten. Ich weiß nicht, was ich in einem solchen Fall getan hätte, vorausgesetzt, es hätte nicht der geringste Zweifel an der Ernsthaftigkeit ihrer Absicht bestanden.«
»Wer aber könnte es gewesen sein, wenn nicht er?« Charlotte wusste, dass es nichts nutzen würde, dem Thema auszuweichen. Sie musste sich ihm stellen.
Vespasia runzelte die Brauen. »Mir ist aufgefallen, dass Sheridans Schwester Enid tief aufgewühlt ist. Man könnte glauben, ihr liege etwas weit Tragischeres als Magnus’ Tod auf der Seele.«
»Enid?«, fragte Charlotte verwirrt. »Wie hätte sie dort hingelangen und ihn erschießen können? Das ist doch sicher unmöglich.«
»Ich ahne es nicht«, gab Vespasia zu. »Von Cordelia anzunehmen, dass sie einer solchen Tat fähig wäre, würde mir am wenigsten schwer fallen, aber ich kann mir nicht denken, auf welche Weise sie das hätte tun können, selbst wenn ihr Magnus’ Vorhaben bekannt gewesen wäre. Und bestimmt hätte er ihr nichts davon gesagt.«
»Es tut mir so Leid«, sagte Charlotte aufrichtig. Sie versuchte gar nicht erst, sich dafür zu entschuldigen, dass Pitt die Wahrheit
ermitteln und den Spuren folgen musste, ganz gleich, wohin sie ihn führten oder welche weitere Tragödie dabei enthüllt werden mochte. Beide wussten das so genau, dass es beleidigend von ihr gewesen wäre, darüber zu sprechen.
»Cordelia hat mich vor einigen Tagen erneut aufgefordert, sie doch einmal zu besuchen«, sagte Vespasia nach einer Weile. »Ich glaube, ich fahre heute Nachmittag gleich nach dem Essen hin.«
Charlotte war überrascht. »Tatsächlich? Glaubst du, dass sie dich doch gut leiden kann?«
In Vespasias Augen trat leichter Spott. »Nein, meine Liebe, das glaube ich nicht. Die Sache hat einen Hintergrund. Lady Albemerle gibt am Dienstag eine Abendgesellschaft. Zwar bin ich eingeladen, doch erwartet sie im Grunde, dass ich nicht komme. Cordelia hat vermutlich keine Einladung bekommen und würde es sicher gern sehen, wenn ich hingehe und den geringen Einfluss, den ich habe, zu Gunsten des Gesetzentwurfs geltend mache. Ihr Stolz lässt nicht zu, dass sie mich darum bittet, und so wird sie wohl eine gewaltige Kröte schlucken
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