Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
des Mannes lag jetzt nicht mehr die geringste Spur von Misstrauen; er machte sogar einen recht freundlichen Eindruck. »Sie haben Recht, Mrs Pitt«, sagte er. »Ein überaus schrecklicher Vorfall. Ich hoffe, Mr Pitt hat sich gut davon erholt.«
»Ja, vielen Dank.«
»Wenn Sie bitte eintreten wollen. Sir Charles nimmt gerade sein Frühstück ein. Ich werde ihn von Ihrer Anwesenheit in Kenntnis setzen.« Er trat zurück und öffnete die Tür weit, damit sie eintreten konnte.
Sie dankte und folgte ihm durch das Vestibül in einen trotz seiner nüchternen Einrichtung sehr angenehm wirkenden Empfangsraum.
Neugierig sah sie sich um. Alles, was sich über Voisey in Erfahrung bringen ließ, konnte eines Tages wichtig sein. Auf einem Mahagonitischchen in der Ecke standen Fotos: An der Seite eines gut aussehenden Herrn in Offiziersuniform befand sich eine Dame – der Haltung nach seine Frau. Sie schienen um die Mitte fünfzig zu sein, und dem Kleid nach zu urteilen, musste das Bild aus den sechziger Jahren stammen. Seine Eltern?
Sie warf einen raschen Blick auf den Inhalt des Bücherschranks. Hinter den Glastüren standen alte Einzelbände und Reihen. Manche der Einbände waren abgegriffen. Sie vermutete, dass Voisey die Bücher einzeln gekauft hatte, um sie zu lesen, und nicht alle auf einmal, um die Einrichtung des Raumes zu vervollständigen, wie das manche taten. Es handelte sich in erster Linie um historische Werke, die sich überwiegend mit dem Mittleren Osten und Nordafrika beschäftigten, doch gab es auch manche, in denen es um den Aufstieg der alten Kulturen ging: Ägypten, Phönizien, Persien und die Frühzeit im Zweistromland.
Der nächste Bücherschrank enthielt zu ihrer Überraschung Lyrikbände und mehrere Romane, darunter Übersetzungen aus dem Russischen und Italienischen, aber auch Werke deutscher Dichter und Philosophen. Ob das Voiseys eigene Bücher waren, oder hatte er sie von seinem Vater übernommen?
Wie viel wusste sie über den Mann? Welche Leere verbarg sich hinter seinem Machthunger?
Letzten Endes war ihr das nicht wichtig. Nichts von alldem entschuldigte, dass seine bloße Existenz eine Bedrohung für Pitt bedeutete. Es war durchaus vorstellbar, dass sie unter gewissen Umständen Mitleid mit ihm empfinden könnte, und trotzdem würde sie alles in ihren Kräften Stehende tun, um die Menschen zu schützen, die sie liebte.
Die Tür öffnete sich, und Voisey trat ein. Er wirkte bleich und erschöpft. Er war glatt rasiert und elegant gekleidet, schien aber weniger gefasst als sonst.
»Guten Morgen, Mrs Pitt«, sagte er und schloss die Tür hinter sich. Auf seinem Gesicht schien ein Anflug von Besorgnis zu liegen, als er sie fragend ansah. Sie nahm an, er befürchtete, Pitt, den er für seine Pläne noch brauchte, könne etwas zugestoßen sein.
»Guten Morgen, Sir Charles«, gab sie zur Antwort. »Ich hoffe, Sie haben nach dem entsetzlichen Vorfall von gestern schlafen können.«
Er entspannte sich ein wenig. Zwar kannte er den Grund ihrer Anwesenheit nicht, doch war sie offenkundig nicht gekommen, um eine weitere Hiobsbotschaft zu überbringen. »Ja, vielen Dank. Wie geht es Ihrem Gatten?«
Dieser Austausch von Höflichkeiten erschien ihr absurd. Zwar waren die beiden Männer gegenwärtig eine Art Verbündete, weil es ihnen um dieselbe Sache ging, letztlich aber doch erbitterte Feinde. Es würde Pitt nichts ausmachen, Voisey zu vernichten, er würde sich freuen, wenn es ihm gelänge, ihn für den Rest seines Lebens hinter Gitter zu bringen, wenn nicht gar an den Galgen. Voisey wiederum würde nicht im Geringsten zögern, Pitt eigenhändig zu töten, sofern ihm das möglich war und wenn er wüsste, auf welche Weise er sich der Strafe dafür entziehen konnte. Schließlich hatte er bereits früher einen Anschlag auf Charlottes Leben und das ihrer Kinder wie auch Gracies verübt.
»Er ist ziemlich erschöpft, sonst aber wohlauf«, sagte sie. »Allerdings kann ich mir vorstellen, dass er nie vergessen wird, wie es war, dort auf dem Lastkahn in der Falle zu sitzen, während das Wasser hereinströmte, und Sie werden wohl auch immer daran denken.«
»Unbedingt.« Trotz seiner bemühten Gelassenheit überlief ihn ein leichter Schauder. Dann trat ein Anflug von Verärgerung auf sein Gesicht, als ihm aufging, dass sie das gemerkt haben musste. »Was kann ich für Sie tun, Mrs Pitt?«
Sie war gewillt, ohne Umschweife auf ihr Ziel loszugehen. »Wie geht es Ihrer Schwester, Sir Charles? Ich habe sie
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