Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
Teedose vom Regal.
»Es sieht ganz so aus, als sei Sir Charles wieder ein Held«, sagte Vespasia trocken.
Charlotte, die neben der Anrichte mit dem blau-weißen Porzellan stand, weil sie vor Aufgeregtheit nicht hätte ruhig sitzen bleiben können, stieß ein kurzes Lachen aus. »Ich wünschte, uns würde eine Möglichkeit einfallen, auch diese Sache gegen ihn zu wenden!« Damit bezog sie sich darauf, dass es ihnen seinerzeit gelungen war, Voisey im Zusammenhang mit Mario Corenas Tod zu überlisten.
Narraway sah mit sonderbarem Gesichtsausdruck zu ihr hin. Sein Mienenspiel ließ sich nicht recht deuten. »Ich glaube, diesmal war er gerissener als wir«, sagte er, erst zu ihr und dann zu den anderen gewandt. Sofern er der Ansicht war, Pitt habe Voisey die Gelegenheit dazu gegeben, ließ er sich das nicht anmerken, auch nicht am Ton seiner Stimme. »Ich glaube, er hat sich vom Staatsschutz das Eisen aus dem Feuer holen lassen und ihn dann, als er seinen Augenblick gekommen sah, sozusagen aus dem Rennen geworfen.«
»Aber es muss doch etwas geben, was wir tun können!«, begehrte Charlotte auf. Sie sah von einem zum anderen. »Wenn wir weder Macht noch Waffen haben, können wir die Leute dann nicht wenigstens mit ihren eigenen schlagen?«
Narraway sah sie aufmerksam an. Ein belustigtes Lächeln lag um seine Mundwinkel.
Charlotte sah an Vespasias Augen, dass diese verstand, was sie meinte. Sie war ebenfalls eine Frau und hatte ihren Gedankengang genau erfasst. Wer klug genug ist und den Gegner hinreichend gut kennt, kann seine eigene Schwäche in Stärke verwandeln.
»Wir wollen alles notieren, was wir über die Gegenseite wissen«, sagte sie. »Dabei fällt uns vielleicht die eine oder andere
Möglichkeit ein.« Sie sah auf Tellman. »Sie arbeiten doch für Wetron, seit Thomas nicht mehr in der Bow Street ist. Bestimmt ist Ihnen da dies und jenes aufgefallen, und sicherlich haben Sie sich Ihr Urteil über den Mann gebildet. Was ist sein Ziel? Wovor hat er unter Umständen Angst? Gibt es jemanden außer ihm selbst, an dem ihm liegt? Jemand, auf dessen gute Meinung er Wert legt oder sogar angewiesen ist?«
Nachdem sich Tellman von seinem Erstaunen darüber erholt hatte, dass Lady Vespasia ihn um seine Ansicht bat, überlegte er gründlich. Analytisches Vorgehen war nicht die Art, wie er normalerweise Probleme behandelte, und so musste er sich erst ein wenig darauf einstimmen.
Alle warteten. Das Wasser im Kessel begann zu sieden, Gracie goss den Tee auf und stellte die Kanne auf den Tisch, wo er noch eine Weile ziehen musste.
»Macht«, sagte Tellman, unsicher, ob es das war, worauf sie hinauswollte.
»Ist er ruhmsüchtig?«, fragte sie.
Er wusste nicht, was er darauf sagen sollte.
Pitt erwog, für ihn einzuspringen, biss sich dann aber auf die Zunge.
»Möchte er bewundert oder geliebt werden?«, fuhr Vespasia fort.
»Das glaube ich nicht«, gab Tellman zur Antwort. »Ich denke, ihm ist es lieber, wenn die Leute Angst vor ihm haben. Sicherheit ist ihm sehr wichtig, deswegen geht er keine Risiken ein.«
»Ist er tapfer?«, fragte sie leise und mit einem Anflug von Sarkasmus in der Stimme.
Tellman lächelte kaum wahrnehmbar. »Nein, Lady Vespasia, das glaube ich nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er seinen Gegnern offen gegenübertreten möchte.«
Narraway nickte knapp, sagte aber nichts.
»Das könnte uns nützlich sein«, sagte Vespasia und schürzte die Lippen ein wenig. »Feiglinge kann man aus dem Konzept bringen und zu übereiltem Handeln veranlassen, wenn die Zeit
knapp ist und sie sich bedroht fühlen.« Sie wandte sich an Pitt. »Ist Sir Charles ebenfalls feige, Thomas?«
Er brauchte nicht lange zu überlegen und sagte: »Nein, Tante Vespasia, er würde dir notfalls von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten. Ehrlich gesagt habe ich den Eindruck, dass es ihm sogar Freude machen würde.«
»Weil er damit rechnet, dass er Sieger bleibt«, sagte Vespasia. »Aber er ist auf Rache aus?«
Alle wussten, dass es sich dabei um eine rhetorische Frage handelte, trotzdem sagte Pitt: »Ja.«
»Weiß Wetron das?«, wandte Vespasia sich erneut an Tellman.
»Ich glaube schon«, gab dieser zur Antwort.
»Falls nicht, könnten wir ihm das mitteilen«, warf Charlotte ein.
Narraway sah sie mit gefurchter Stirn scharf an.
»Wenn das unser Wunsch wäre«, fügte sie rasch hinzu.
Gracie vereinfachte das Ganze mit dem Satz: »Se mein’n, wir woll’n de beid’n auf’nander hetz’n?« Sie goss den
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