Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
Tee ein.
Vespasia lächelte ihr zu. »Bewundernswert knapp zusammengefasst«, sagte sie. »Da wir allem Anschein nach im Unterschied zu den anderen über keine Waffen verfügen, müssen wir uns der ihren bedienen oder ihnen den Sieg gönnen – was mir offen gestanden völlig gegen den Strich geht.«
Narraway sah zuerst auf Pitt, dann auf sie. »Wetron hat ein Netz von Korruption geschaffen, bei dem die Beamten mehrerer Reviere – wir wissen noch nicht genau, wie viele es sind – von einfachen Leuten Geld erpressen. Die Schmutzarbeit überlassen sie Kriminellen wie beispielsweise Taschen-Jones. Mit diesen Einnahmen finanziert Wetron sein Imperium. Unterstützt von Männern wie Edward Denoon und dessen Zeitung, hat er die Stimmung in der Öffentlichkeit so weit hochkochen lassen, dass die Bereitschaft besteht, ja, geradezu der Wunsch, die Polizei mit Schusswaffen auszurüsten und ihre Vollmachten zu erweitern, ohne dass die Möglichkeit eines Missbrauchs ernsthaft erwogen wird. Die Sprengstoffanschläge und Magnus Landsboroughs
Ermordung haben dafür gesorgt, dass die Zeit für eine solche Gesetzgebung jetzt reif zu sein scheint.«
Pitt begriff, und er sah, dass Charlotte sowie Vespasia ebenfalls verstanden hatten. Tellman machte ein finsteres Gesicht.
Narraway fuhr fort, wobei er betont nicht zu Charlotte hinsah, als fürchte er, ihr in die Augen zu blicken. »Allem Anschein nach verfügt Voisey über unwiderlegliches Material, mit dessen Hilfe er Wetron vernichten kann, indem er dessen Verbindung mit Simbister und dem Anschlag in der Scarborough Street sowie die Beziehung beweist, die zwischen Piers Denoon und dem Mord an Magnus Landsborough besteht.« Er sah Pitt an. »Das Material besitzt Voisey noch?«
»Ja«, sagte Pitt unglücklich. »Wir haben die Protokolle der Aussagen im Zusammenhang mit den Erpressungen, aber Voisey hat die Beweise für Wetrons Verwicklung in die Geschichte in der Scarborough Street. Zumindest sagt er das.«
»Glauben Sie ihm?«
Pitt zögerte. »Ja.«
Vespasia setzte ihre Tasse ab. »Die Frage ist doch gewiss, ob Wetron es sich leisten kann, ihm nicht zu glauben?«
Narraway nickte anerkennend. »Genau, Lady Vespasia. Falls Wetron das weiß, bleibt ihm keine Wahl, als etwas gegen Voisey zu unternehmen. Ihm ist klar, dass Voisey nicht nur danach lechzt, sich an dem Mann zu rächen, der ihn verdrängt hat, sondern erneut die Führung des Inneren Kreises übernehmen will. Er ist überzeugt, Pitt aus dem Weg geräumt zu haben, und wird sich jetzt Wetron vornehmen, ohne weitere Zeit zu verlieren.«
»Denkbar, dass Wetron das weiß, aber ebenso ist es möglich, dass er es nicht weiß«, gab Pitt zu bedenken. »Unter Umständen arbeitet er darauf hin, dass der Gesetzentwurf im Unterhaus durchkommt. Trotz all seiner gegenteiligen Behauptungen darf man die Möglichkeit nicht von der Hand weisen, dass Voisey das ebenfalls wünscht. Anschließend würde er unauffällig an Wetrons Stelle im Inneren Kreis treten und einen seiner Spießgesellen zu Wetrons Nachfolger in der Bow Street machen. Das gäbe diesem
die Möglichkeit, weit unauffälliger mit der Erpressung fortzufahren. Die Anschläge würden aufhören, Anarchisten festgenommen, vor Gericht gestellt und hingerichtet – und das alles würde man in der Öffentlichkeit breittreten. Die Mächtigen wären zufrieden, Voisey würde nicht nur ernten, wo Wetron gesät hat, sondern auch als Held dastehen. Und eines Tages würde er dann das Amt des Premierministers anstreben.«
Tellman hatte bisher nur wenig gesagt. Vespasia sah ihn aufmerksam an, weil ihr bewusst war, dass er als Einziger Wetron die nötigen Hinweise geben und dafür sorgen konnte, dass dieser merkte, wie dringend er handeln musste. Sein angespanntes, eingesunkenes Gesicht zeigte ihr, dass ihm das sehr wohl bewusst war. Vielleicht war ihm auch die damit verbundene Gefahr klar – doch wie stand es um die moralische Seite? Wetron wie Voisey waren rücksichtslose Mörder. Inwieweit wäre jeder der hier in der Küche Anwesenden, der in diesen Rivalitätskampf eingriff, am Ergebnis mitschuldig?
Ein Blick auf Victor Narraways Gesicht zeigte ihr, dass in ihm widerstrebende Empfindungen miteinander kämpften. Der entschlossene Teil seines Wesens, der es gewohnt war, Entscheidungen zu treffen, auch wenn deren Auswirkungen noch so bitter waren, schien im Widerstreit mit etwas unendlich Verletzlichem zu liegen.
Ihr war klar, dass Pitt das ebenfalls merkte. Allerdings hatte sie nicht
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