Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
unterstrich und was nicht. So mied sie alles Auffällige und trug bei wichtigen Anlässen Grau und Violett in allen Schattierungen oder das kühle Grün und Blau des Wassers. Etwas Rotes hätte sie um keinen Preis angezogen – lieber wäre sie erfroren.
Charlotte sah sich wegen ihrer beschränkten finanziellen Mittel zu größerer Bescheidenheit genötigt und hatte sich so manches Mal, wenn sie sich in Gesellschaft begeben musste, entweder von Großtante Vespasia oder von Emily ein Kleid ausleihen müssen. Letzteres war nicht ganz einfach, da sie eine gute halbe Handbreit größer war als ihre Schwester. Auch bei den Farben musste sie wegen ihres warmen Hauttons, der wie Bernstein war, ihrer grauen Augen und ihres wie poliertes Mahagoni glänzenden Haares Kompromisse eingehen.
Diesmal allerdings wollte sich Charlotte lediglich mit Emily unterhalten. Zu diesem Anlass genügte ein graublaues Musselinkleid mit weiten Ärmeln den Ansprüchen.
»Charlotte!« Emily trat ihr in der Tür ihres Boudoirs entgegen, Freude lag auf ihren Zügen. Nach einer flüchtigen Umarmung tat sie einen Schritt zurück. »Was gibt es? Irgendetwas muss passiert sein, sonst würdest du nicht um diese Tageszeit herkommen. Geht es um einen von Thomas’ Fällen?« Ihre Stimme klang eindringlich, fast hoffnungsvoll.
Charlotte musste daran denken, wie oft sie sich beide bei Mordfällen an Pitts Ermittlungen beteiligt hatten. Gewöhnlich war das Tatmotiv Habgier, Machthunger oder die Angst vor Entdeckung gewesen. Sie beide hatten in solchen Situationen Dinge getan, die ihr im Rückblick unbegreiflich erschienen, ohne dass sie sich dessen jedoch schämte. Immerhin hatten sie so manches Mal der Wahrheit zum Sieg verholfen und zumindest für eine Art von Gerechtigkeit gesorgt, doch hatte es auch tragische Fälle gegeben. Ganz wie Emily trauerte auch sie diesen Zeiten nach. Mittlerweile waren solche Abenteuer nicht mehr möglich, denn erfreulicherweise nahm Jack seine Karriere als Politiker inzwischen so ernst, dass sich seine Gattin nicht mehr auf derlei Dinge
einlassen konnte. Hinzu kam, dass Pitts Arbeit beim Staatsschutz nicht nur gefährlicher war als seine frühere Tätigkeit bei der Polizei, sie unterlag auch strengerer Geheimhaltung. Es hätte keinen Sinn gehabt, etwas zu bedauern oder sich zu grämen, da diese Wendung unvermeidlich gewesen war.
»In gewisser Hinsicht hat es mit seiner Arbeit zu tun«, antwortete Charlotte auf Emilys Frage. Sie folgte ihr ins Zimmer und setzte sich. »Es geht um den Sprengstoffanschlag der Anarchisten in der Myrdle Street. Du weißt schon, den, bei dem der junge Landsborough ums Leben gekommen ist«, fügte sie hinzu.
Emilys Gesicht verdüsterte sich. »Ist das nicht entsetzlich? Und wie viel Schaden dabei angerichtet worden ist! Sein Tod ist natürlich eine Katastrophe. Trotzdem fragt man sich unwillkürlich, was um Himmels willen er mit solchen Menschen zu tun hatte! Und jetzt versuchen bestimmte Leute im Unterhaus ein Gesetz einzubringen, das der Polizei mehr Waffen geben und es ihr ermöglichen soll, beim kleinsten Anlass Hausdurchsuchungen vorzunehmen. Jack fürchtet, wenn das durchkommt, würden die Leute der Polizei das Leben schwerer machen, statt sie zu unterstützen, womit das Rad um Jahre zurückgedreht würde.« Ihre Augen waren tief umschattet. »Ich weiß nicht, ob die Lage wirklich so schlimm ist, wie er sie hinstellt, jedenfalls lässt er sich durch nichts dazu bringen, seinen Widerstand dagegen aufzugeben.«
Charlotte sah ihre Schwester an, die ungeachtet des Sonnenlichts und der leuchtenden Farben, der Vasen voller Blumen und des Geruchs nach frisch gemähten Gras, der durch das halb offen stehende Fenster hereinwehte, mit verkrampften Händen und besorgter Miene in sich zusammengesunken auf dem eleganten Sofa saß. Sie war unverkennbar voller Beklemmung.
»Du findest es nicht richtig, dass er sich der Sache entgegenstellt?«, fragte Charlotte. Ihrer Ansicht nach hätte Emily nach Jacks vertändelten Jugendjahren eigentlich erleichtert sein müssen, dass er sich offen einer Auseinandersetzung stellte, wenn nicht gar stolz darauf, dass er so entschlossen und zielstrebig
geworden war. Immerhin hatte sie lange genug darauf gehofft, dass er die Dinge ernster nahm, und ihn mit vielen guten Worten in diese Richtung gedrängt.
Unwillig verzog Emily den Mund. »Es ist ein hässlicher Kampf!«, stieß sie hervor. »Vielen liegt die Sache sehr am Herzen, weil sie Angst haben. Angst aber macht
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