Flammen über Scarborough Street: Ein Inspektor-Pitt-Roman
der springende Punkt. Sie können alles fragen! Wer war zu Besuch im Hause, wie viel Geld gibt die Familie aus, wohin hat dich dein Kutscher gefahren, mit wem hast du gesprochen, wem hast du Briefe geschrieben, von wem hast du welche bekommen? Was stand darin?«
Emily schüttelte den Kopf. »Aber warum nur? Welches Interesse könnte die Polizei daran haben?«
Charlotte begriff sogleich, was hinter dieser Ungeheuerlichkeit stand. Allerdings war sie auch mit der Arbeit der Polizei vertrauter und wusste von Pitt, wie groß die Gefahren der Korruption
waren. »Das würde der Erpressung Tür und Tor öffnen«, sagte sie leise. Ihr Inneres krampfte sich zusammen. »Wer die richtigen Fragen stellt, kann auf diese Weise Belege für fast jeden Schuldvorwurf finden. Wir würden alle in Angst und Schrecken vor übler Nachrede, Gerüchten und Missverständnissen leben. Es ist widersinnig! Bisher hatten Dienstboten Angst, dass sie keine neue Stelle bekommen, wenn ihr gegenwärtiger Arbeitgeber Schlechtes über sie sagt – und in Zukunft würden wir in Angst vor unseren Dienstboten leben. Eine unzutreffende Behauptung der Polizei gegenüber, und wir würden unseren guten Ruf verlieren. Ein solcher Vorschlag hat doch sicherlich keinerlei Aussicht, Gesetz zu werden, oder?«
Jack wandte sich ihr mit umschatteten Augen zu. »Ich weiß nicht recht. Immerhin wäre eine Menge Macht damit verbunden. Es würde genügen, dass sich ein Polizeibeamter gekränkt fühlt, sich hervortun oder jemandem eins auswischen will. Die Möglichkeiten sind endlos. Anfangs würde man das Gesetz vielleicht wirklich nur in Fällen anwenden, in denen es um den Verdacht der Anarchie oder des Landesverrats geht, dann aber würde man es auf Diebstahl, Unterschlagung oder Betrug ausdehnen und schließlich dazu übergehen, Erpresser selbst zu erpressen. Die Polizei könnte so gut wie alles tun, was in ihrem Belieben steht, weil jeder Bürger verletzlich wäre.«
»Aber wir haben doch nichts zu …«, setzte Emily an. »Verbergen?«, fragte er mit gehobenen Brauen. »Wer sagt denn, dass es dabei um die Wahrheit geht? Was ist mit faulen oder aufsässigen Dienstboten oder mit solchen, die sich über ihre Herrschaft ärgern, solchen, die man bei einem Diebstahl ertappt hat, die trinken oder spielen, ein unerlaubtes Verhältnis haben oder einfach nur auf Geld oder Macht aus sind?« Seine Stimme wurde schärfer. »Gefährlich wären sogar solche, die Angst haben, verliebt sind oder sich leicht beeinflussen lassen. Es könnte auch sein, dass jemand einem Angehörigen helfen will, der in Schwierigkeiten ist oder …«
»Schon gut!«, rief Emily aus. »Ich habe verstanden! Es ist
unvorstellbar. Kein Parlament, dessen Mitglieder bei klarem Verstand sind, würde ein solches Gesetz erlassen.«
»So würde man es ja auch nicht formulieren!«, sagte er verzweifelt. »Dem Wortlaut nach ginge es nur um das Recht der Polizei, Dienstboten ohne Wissen der Herrschaften zu befragen. Als Grund dafür würde man anführen, dass man sie auf diese Weise von dem Druck befreien will zu lügen, um ihre Stellung nicht zu gefährden.«
»Geht das nicht jetzt schon?«, fragte Charlotte verwirrt.
»Natürlich kann die Polizei Dienstboten wie jeden anderen Bürger verhören«, gab Jack zur Antwort. »Aber nicht ohne Wissen ihrer Herrschaft. Wenn das Gesetz durchkäme, hätten die Wände im eigenen Hause außer Ohren auch Augen, und das beileibe nicht nur in Küche und Esszimmer, sondern sogar im Schlafzimmer! Die Neuerung liegt darin, dass man die Sache mit der Behauptung verbrämt, man wolle die Bevölkerung vor der Anarchie schützen. In einem solchen Fall müsste die Polizei keine Gründe nennen. Gegenwärtig ist ein begründeter Verdacht nötig, dass ein bestimmter Mensch eine bestimmte Straftat begangen hat, um ihn offen befragen zu können. Künftig würde das insgeheim geschehen und ohne dass man einen Grund brauchte. Die Sache würde ganz harmlos anfangen und immer weiter um sich greifen, ohne dass wir es merkten.«
Emily senkte den Blick. »Ich verstehe. Ja, dagegen musst du dich wohl stellen«, sagte sie resigniert. Offenkundig hatte sie sich mit der Sache abgefunden.
»Wann hast du davon erfahren?«, fragte ihn Charlotte.
»Heute Morgen. Nachdem Thomas mich verlassen hat, um … um seine Dienststelle aufzusuchen, nehme ich an. Ich konnte es ihm also noch nicht sagen. Er muss das unbedingt wissen. Tut mir aufrichtig Leid, ich wollte euch beide nicht damit belasten.« Mit
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